Es gibt Menschen, die sich buchstäblich mit einem Plan tragen, das heisst, die ihn gar nicht verwirklichen wollen. Als fürchteten sie, der Plan würde, einmal zur Welt gebracht, auch unvermeidlich weltlich beschmutzt und verdorben.
Ich erlaube mir hier eine persönliche Anekdote. Oft befällt mich, wenn ich einen gedruckten Text von mir lese, ein irritierendes Unbefriedigtsein, fast möchte ich sagen: ein Cafard des Schöpfers vor seiner Schöpfung. Ich habe den Eindruck, dass der Text im reinen Zustand seiner Geplantheit, also in meinem Kopf, eigentlich viel besser aussah. Seine Strahlkraft bezog er daraus, dass er noch nicht geschrieben war. Jetzt, da er vor mir liegt, erscheint er mir als „gefallen“ – in die unvollkommene Buchstabenexistenz des Geschriebenen.
Vorrang des Nichtseins
Diese Erfahrung, so habe ich inzwischen aus der Lektüre einiger frühchristlicher Denker gelernt, ist ursprünglich religiös gefärbt: Der Schöpfer hat im Grunde kein Gefallen an dem, was er geschaffen hat. Eigentlich hätte er es auch bleiben lassen können. Gewisse Gnostiker schrieben dem Nichtsein einen höheren, ja, einen geradezu vollkommenen ontologischen Status zu.
Für Basilides zum Beispiel war Nichtexistenz ein göttliches Prädikat: Gott ist der „Ungewordene“, derjenige, der nicht ist – welch gewaltige Paradoxie! Existenz und Zeit sind Fallen, in die wir geraten. Deshalb sollten wir die Dinge, um sie in ihrem perfekten Zustand zu erhalten, in zeitloser Nichtexistenz belassen. Die mittelalterliche Sekte der Bogomilen schrieb die Schaffung der Welt aus dem Nichts dem Teufel zu.
Das Nichtsein spielt in der europäischen Geistesgeschichte eine wichtige Rolle, obwohl ein altehrwürdiges Magisterium der Philosophie Ontologie heisst: die Lehre dessen, was ist. Trotzdem dreht sich vor allem das moderne Denken seit Nietzsche um die grosse kosmische Null. Die Existenzphilosophie, obwohl nominell der Existenz verpflichtet, begreift den Menschen ausdrücklich ex negativo, aus seiner Nicht-Existenz heraus, die in Absurdität, Angst, Ekel oder Langeweile erfahrbar wird.
Nichtstun
Es gibt das Nichts auch als Tätigkeitsmodus, als Nichtstun. Die Gnostiker leiteten aus der ontologischen Höherwertigkeit des Nichtseins einen praktischen Imperativ ab: Wir sollten nichts tun, weil wir die Welt durch unser Tun nicht besser machen.
Reines Nichtstun ist allerdings, wie uns Bertrand Russell beschied, die schwierigste Sache der Welt. Eine existenzielle Kunst. Asketen pflegen sie bis zur Selbstaufgabe, etwa im völlig immobilen Zustand des Säulenheiligen. Wir kennen aus der Literatur auch Asketen der modernen Arbeitswelt, Figuren Robert Walsers etwa oder Hermann Melvilles seltsamen Mister Bartleby, der seinen fortschreitenden Rückzug aus dem Tätigsein mit der stets höflichen Formel „I would prefer not to“ einleitet. Dem Untergang verschriebene Figuren im Grunde, denn sie werden vom Nichtstun schliesslich absorbiert. Sie verschwinden in ihm wie in einem schwarzen Loch, das als Mahnmal unserer Hypergeschäftigkeit dasteht.
Prokrastination
Uns sucht im heutigen Alltag eine andere Form des Nichtstuns heim. Sie entspringt nicht dem Verzicht, etwas zu tun, sondern dem Impuls, zuviel tun zu wollen. Die meisten von uns beobachten diese Heimsuchung an der schleichenden Mutation eigenen Arbeitsverhaltens. Sie trägt den aparten Namen „Prokrastination“: Aufschieben auf später (das lateinische „pro cras“ bedeutet „für morgen“).
Die Zugriffsmöglichkeiten auf Informationsquellen im Netz sind ins Immense gewachsen. Man wird zum gehetzten Sucher und Sammler. Vielleicht möchte man, um zu einem möglichst perfekten Resultat zu gelangen, immer noch mehr Material, das man bei gegebener Zeit bearbeiten kann. Und genau hier tappt man in die Prokrastinationsfalle. Man schiebt eine Arbeit auf zugunsten anderer Tätigkeiten. Man schiebt sie womöglich auf, bis man sie am Ende nicht mehr erledigt.
Prokrastination ist die Zwillingsschwester des Multitasking. Statt „Alles jetzt!“ sagt sie „Alles nicht jetzt!“ Die neuen Such- und Sammeltechniken befördern natürlich beide Haltungen. Und beide können zu Extremformen führen, im ersten Fall zu einer Hyperaktivität, im zweiten zu einer Hyperpassivität.
Prokrastinieren ist ein Zwitterzustand zwischen Tun-können und Nicht-tun-wollen. Ich könnte den Text schreiben, aber ich will noch nicht, vielleicht fällt mir noch etwas ein, oder ich finde Material, das ihn noch besser macht. Am Ende finde ich mich in einem unbehaglichen, quälenden Zustand des Verknotetseins, aus dem ich mich nicht mehr lösen kann.
Gelassenheit
Unter Umständen befreit mich eine andere Form von Nichtstun. Anstelle der Arbeit verschiebe ich mich selbst. Ich gewinne eine neue Sicht auf die Arbeit, indem ich sie sein lasse, mit dem Akzent auf „sein“. Sie ist da, und ich bewege mich um sie herum. Vielleicht eröffnet sich gerade so eine neue Blickrichtung auf sie, eine Richtung, in der ich sie nicht ständig vor mir herzuschieben brauche.
Diese Haltung des Nichtstuns nennt sich Gelassenheit. Sie empfiehlt sich gerade in einem Zeitalter des technischen Überangebots, in der sich die vermeintlichen Entlastungen durch all die schönen neuen Apps zunehmend als Belastungen erweisen.
Gelassenheit löst sich vom impliziten Imperativ des Tuns. Sie begreift sich explizit als Kunst des Handelns, die etwas auch lassen kann. Sie lehrt die Freiheit des Ja-oder-nein-Sagens, je nach Gelegenheit. Sie entspringt nicht einem anti-technischen Motiv, sie ist der Technik zugewandt. Wie es Martin Heidegger ausdrückte: „Wir können ‚ja’ sagen zur unumgänglichen Benützung der technischen Gegenstände, und wir können zugleich ‚nein’ sagen, insofern wir ihnen verwehren, dass sie uns ausschliesslich beanspruchen und so unser Wesen verbiegen, verwirren und zuletzt veröden (...) Ich möchte diese Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt mit einem alten Wort nennen: Gelassenheit zu den Dingen.“
Seinlassen als Conditio humana
Gelassenheit in diesem Sinne lernt man heute am ehesten als kleine „sabotierende“ Exerzitien des technisierten Alltags. Wir finden eine individuelle Balance zwischen Online- und Offline-Aktivitäten, schliessen das Auto eine Zeit lang in die Garage, legen eine Pause ein in der grassierenden Inkontinenz der elektronischen Kommunikation.
Oder wir benutzen das Gerät einfach anders, gegen sein Gebrauchsdiktat: spielen zum Beispiel Handyweitwurf; machen einen Hindernislauf über parkierte Autos; malen mit abwaschbaren Farben ein Gemälde auf den TV-Bildschirm. Wir machen die fundamentalste Entdeckung unseres Lebens: Die Dinge sind nicht so, wie sie zu sein scheinen.
Hannah Arendt triangulierte in ihrem grossen Werk „The Human Condition“ die menschliche Existenz im Dreieck von Arbeiten, Herstellen und Handeln. Ich schlage eine Erweiterung zu einem existenziellen Viereck vor: Arbeiten, Herstellen, Handeln und Seinlassen. Das bedeutet nicht Technikverzicht, vielmehr eine Art von engagierter, aktiver Passivität. Nichtstun käme so einer Geste der Freiheit gleich. Um es deutlich zu sagen: einer Geste schwindender Freiheit.