Vor vierzig Jahren tobte in weiten Teilen Westeuropas, vor allem aber in Deutschland, der Streit um die sogenannte Nato-Nachrüstung. Es ging um die Stationierung nuklearer Mittelstrecken-Raketen als Gegengewicht gegen die aufgestellten sowjetischen Waffen. Die damalige Friedensbewegung protestierte mit Massendemonstrationen gegen das Projekt. Die Nato setzte es trotzdem durch. Reagan und Gorbatschow einigten sich schliesslich auf die Verschrottung aller nuklearer Mittelstreckenwaffen in Europa.
Das Schlagwort von der Nato-Nachrüstung ist heute wohl nur noch jenen Medienkonsumenten ein Begriff, die vor vierzig Jahren die aufgewühlten politischen Auseinandersetzungen um dieses Thema einigermassen bewusst miterlebt haben. Die Nato hatte damals – massgeblich auf Initiative des damaligen SPD-Bundeskanzlers Schmidt – beschlossen, eigene nukleare Mittelstreckenwaffen in Europa aufzustellen, nachdem die Sowjetunion schon seit Jahren Geschosse dieses Typs stationiert hatte. Gleichzeitig mit diesem Beschluss wurde Moskau aufgefordert, Verhandlungen über eine Begrenzung oder gar einen gegenseitigen Verzicht auf diese Waffen zu beginnen.
Schmidt wird gestürzt, Gorbatschow steigt auf
Im Herbst 1983 beschloss die Mehrheit des westdeutschen Parlaments, das zu jener Zeit in Bonn tagte, mit der heiss umstrittenen Stationierung der Mittelstreckenraketen in Deutschland zu beginnen, nachdem die entsprechenden Verhandlungen ergebnislos verlaufen waren. Schon im Jahr zuvor war die Regierung Schmidt gestürzt worden – hauptsächlich deshalb, weil die Mehrheit der SPD-Parlamentsabgeordneten nicht mehr bereit war, den Nato-Doppelbeschluss zu stützen, und so den eigenen Kanzler im Stich liess. Dessen Nachfolger Kohl von der CDU verfügte über eine deutlich solidere Mehrheit im Rücken. Er liess keine Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen, den Vollzug der Nachrüstung umzusetzen.
Schliesslich kam alles ganz anders, als die zum Teil apokalyptischen Szenarien der friedensbewegten Wortführer wie Erhard Eppler oder Oskar Lafontaine prophezeit hatten. In Moskau kam ein Politiker ganz neuen Zuschnitts namens Gorbatschow an die Macht. Nach zähen Verhandlungen mit mehreren Rückschlägen unterschrieb er 1987 in Washington mit dem damaligen Präsidenten Reagan einen Vertrag zur Verschrottung sämtlicher nuklearer Mittelstreckenwaffen in ganz Europa. Mit einem solchen Ergebnis hatten auch die optimistischen Väter des Nato-Doppelbeschlusses kaum gerechnet, von den Untergangspropheten im Lager der Nachrüstungskritiker ganz zu schweigen.
«Frieden ohne Waffen» funktioniert nicht
Man kann den langwierigen und im Westen zeitweise hochemotional geführten Kampf um das Nato-Nachrüstungsprojekt auch als eine Art Lehrstück zur aktuellen öffentlichen Debatte um Waffenlieferungen an die von Russland überfallene Ukraine betrachten. Die Hauptparole der schillernden Friedensbewegung «Frieden schaffen ohne Waffen» hatte jedenfalls nicht den Erfolg herbeigeführt, sondern vielmehr die Standfestigkeit der Nato-Partner, am Nato-Doppelbeschluss in beiden Teilen – nachrüsten und verhandeln – festzuhalten. Die Verhandlungen mit Moskau führten erst dann zu einem Ergebnis, nachdem die Nato ihre umstrittene Nachrüstung vollzogen und waffenmässig ein ungefähres Gleichgewicht mit dem Sowjetimperium hergestellt hatte.
Dieses Lehrstück spricht jedenfalls gegen die Argumentation jener Pazifisten im Westen, die behaupten, nur ein Stopp weiterer Waffenlieferungen an die Ukraine werde zu einem Waffenstillstand und zu ernsthaften Friedensverhandlungen mit Putin führen. Die Erfahrungen aus der Nachrüstungskontroverse vor vierzig Jahren zeigen vielmehr, dass ein expansives Imperium wie das damalige und heutige Kremlregime erst dann zu ernsthaften Verhandlungen und akzeptablen Kompromissen bereit sein wird, wenn eindeutig feststeht, dass der Widerstandswille auf der Gegenseite nicht zu brechen sein wird. Die geforderte Einstellung westlicher Waffenhilfe an die Ukraine ohne klar definierte russische Gegenleistungen wie den Rückzug hinter die Grenzen vom Februar 2022 (wie das Henry Kissinger vorschlägt) würde de facto auf ein Geschenk für den Aggressor Putin hinauslaufen.
Mit der Frage, welches politische Schicksal dann die Ukraine im Falle einer geschwächten Verteidigungsfähigkeit und einer entsprechend gestärkten Expansion der russischen Armee erwarten würde, scheinen sich die Gesinnungspazifisten im Westen, anders als die Bürger in der Ukraine, nicht näher zu beschäftigen.
Warten auf Putins Rückzug
Allerdings lässt sich nicht bestreiten, dass für den erfreulichen Ausgang der Nachrüstungskontroverse vor vier Jahrzehnten der Glücksfall Gorbatschow eine zentrale Rolle spielte. Ohne seine Einsicht in die Unhaltbarkeit militärisch-imperialer Machtexpansion und die Unabwendbarkeit einer offeneren Gesellschaft (Perestroika) wäre der Vertrag mit Reagan zur Beseitigung aller nuklearer Mittelstreckenwaffen in Europa wohl nie zustande gekommen.
Kann man im Hinblick auf Putins Nachfolge auf einen ähnlichen Glücksfall hoffen? Damit zu rechnen wäre vermessen und unrealistisch. Aber hoffen darf man immer. Politische Wunder sind nie auszuschliessen, wie der unerwartete Fall der Berliner Mauer, die Auflösung des Sowjetimperiums und die inzwischen schon fast zur Selbstverständlichkeit gewordenen Integrationsprozesse im einst von ständigen Kriegen heimgesuchten Europa zeigen.
Realistisch bleibt hingegen das Ziel, dem Machthaber im Kreml die Erkenntnis nicht zu ersparen, dass er sich mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine total verkalkuliert hat und ein Rückzug unvermeidlich bleibt.