Die meisten westlichen Beobachter sind sich einig: Ohne Joe Biden und Wolodymyr Selenskyj wäre die Ukraine heute längst russisch. Dank der 40-Milliarden-Hilfe des US-Präsidenten hat das überfallene Land eine Chance zu überleben. Obwohl er die Gelder für die amerikanische Militärhilfe sprudeln lässt: In einem Punkt zögert und bremst Biden. Jetzt kommt er unter Druck.
Vor allem die drei baltischen Staaten drängen die Nato, die Ukraine als vollwertiges Mitglied aufzunehmen. Mit gutem Grund: Putin betrachtet nicht nur die Ukraine als «russische Erde», sondern auch das Baltikum. Hätte er es dann – sollte er den Krieg in der Ukraine gewinnen – auf die drei Ex-Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen abgesehen?
Krišjānis Kariņš, der lettische Ministerpräsident, sprach sich am Mittwoch energisch für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine aus. Dies sei «die einzige Chance für Frieden in Europa», sagte er in Riga. Ohne eine solche Mitgliedschaft würden «die Russen zurückkommen». Im Baltikum hofft man, dass eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft Putin vor weiteren territorialen Gelüsten abschrecken würde.
Das Thema «Mitgliedschaft der Ukraine» ist eines der heissen Eisen, das am bevorstehenden Nato-Gipfel behandelt wird. Die 31 Nato-Staaten treffen sich am 11. und 12. Juli in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Joe Biden wird dabei sein. Vielleicht auch, zumindest teilweise, Wolodymyr Selenskyj.
Die drei baltischen Staaten, unterstützt von Polen, verlangen, dass die Nato jetzt einen konkreten Zeitplan für die Aufnahme der Ukraine beschliesst. Die Befürworter eines Nato-Beitritts der Ukraine erklären, eine Mitgliedschaft der Ukraine wäre eine klare Botschaft an Putin, dass der Westen das überfallene Land nach wie vor mit allen Kräften unterstützt.
Doch Biden bremst. Die USA fürchten, dass bei einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine der Krieg dann eskalieren und endgültig zu einem Ost-West-Schlagabtausch mit schrecklichen Folgen werden könnte. Zwar schloss Biden immer wieder eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft nicht völlig aus. Doch immer blieb er vage und wenig konkret. Von einem festen Zeitplan, der die Aufnahme regeln soll, will er gar nichts wissen. Jetzt allerdings wird der Druck erhöht. Und die Gefahr besteht, dass die bisher geeint auftretende Nato Risse erhält.
Kritiker der ukrainischen Mitgliedschaft argumentieren, dass damit Wasser auf die russische Propaganda geleitet werden könnte, die behauptet, der Westen wolle die russische Nation definitiv und für immer in die Knie zwingen. Das könnte den russischen Nationalismus stärken.
Zudem mahnen einige westliche Kräfte zur Besonnenheit. Bei allem Ukraine-Enthusiasmus dürfe man nicht vergessen, dass das Land zu den weltweit korruptesten gehörte. Und wer garantiert, dass die Ukraine nach dem Krieg nicht zu einem Orbán- oder Erdoğan-Staat wird? Mit diesen Ländern hat man schon genug Ärger.
Wie verhalten sich die übrigen Nato-Mitglieder? Deutschland hat klar Position bezogen und sich auf die Seite von Biden gestellt. Auch in den meisten anderen Nato-Staaten (ausser den baltischen) versteht man Bidens Haltung und sieht die Gefahr, dass sich der Ukraine-Krieg ausweiten könnte.
Doch der Druck der Balten und Polen geht nicht spurlos an Biden vorbei. Laut amerikanischen Medien könnte sich der amerikanische Präsident beim Gipfeltreffen in Vilnius nun doch bewegen und den Nato-Befürwortern der Ukraine entgegenkommen.
Sicherlich wird die Nato die Balten dadurch beruhigen, dass sie in Vilnius eine weitere Aufstockung der militärischen Hilfe beschliesst. Sollte die gegenwärtige ukrainische Gegenoffensive bald einige Erfolge vorweisen können, würde das die Bereitschaft zu zusätzlichen Waffenlieferungen fördern. Zudem könnte, sozusagen als Kompromiss, die Ukraine zwar nicht sofort Mitglied der Nato werden, aber vermehrt in das westliche Bündnis eingebunden werden.
Ausgerechnet das Beispiel Russland könnte Vorbild sein. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Russland im Jahr 2002 am Nato-Hauptsitz in Brüssel ein Büro eröffnen dürfen. Man sprach von «gleichberechtigten Partnern» und feierte das Ende des Ost-West-Konflikts. Russland wurde also eine Art «halbes Nato-Mitglied». Nach dem Überfall auf die Krim im Jahr 2014 wurden die Russen dann rausgeworfen.
Soll die Ukraine in Brüssel ein Büro, eine ständige Vertretung, eröffnen dürfen, wie damals Russland? So könnte man den überfallenen Staat enger ins Nato-Gebilde einbeziehen, ohne dass er formell Mitglied des Nordatlantikpaktes würde. So könnten, zumindest vorläufig und als Kompromiss, beide Seiten befriedigt werden.
Doch selbst wenn die Nato eine Mitgliedschaft der Ukraine jetzt anstrebte: Noch wäre ein weiter Weg zu gehen. Laut den Nato-Statuten müssen alle Nato-Länder mit der Aufnahme eines neuen Staates einverstanden sein. Wie würde Viktor Orbán reagieren? Oder Erdoğan, der sich rühmt, eine «besondere Beziehung» mit Putin zu pflegen und ihn als «lieben Freund» bezeichnet. Würde der türkische Präsident sein Veto gegen die Aufnahme der Ukraine einlegen? Das Beispiel Schweden könnte abschreckend sein.