Nathaniel „Nate“ Silver, der 34-jährige Shooting Star unter den Meinungsforschern, stellt die meisten renommierten Institute in den Schatten. Sie hatten im Vorfeld der Wahlen hunderte Umfragen publiziert und ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorausgesagt.
Nate Silver spottete nur über sie. „Ihr habt nicht gemerkt, dass das Rennen längst gelaufen ist. Obama wird komfortabel siegen.“ Siehe Journal21-Artikel: Obamas Chancen liegen bei 92,0 Prozent
Das wiederum rief die Republikaner auf den Plan. Nate Silver sei von den Demokraten bezahlt, um billige Stimmungsmache zu verbreiten. Die alteingesessenen Meinungsforschungsinstitute versuchten, seinen Ruf zu lädieren. Silver verfalle dem Hokuspokus, er sei ein Alchimist, ein Hochstapler.
Seit dem späten Wahlabend sagt das keiner mehr.
Silver, der in Chicago Mathematik und Statistik studierte, prognostizierte für Obama 313 Elektoren-Stimmen. Obama erhält (Florida mitgerechnet) 332. Die meisten andern Institute gaben dem Präsidenten höchstens 277 Wahlmänner-(-Frauen)-Stimmen.
Selbst in Florida liegt er richtig
Das Interesse konzentrierte sich auf die neun umstrittenen sogenannten Battleground-Staaten: Florida, Ohio, Colorado, New Hampshire, North Carolina, Wisconsin, Iowa, Nevada und Virginia. In allen diesen Staaten lag Nate Silver mit seiner Prognose richtig, und zwar schon viele Tage vor der Wahl.
Auch im stark umkämpften Virginia, wo Romney bis kurz vor Schluss führte - aber eben: nur bis kurz vor Schluss. Auch hier täuschte sich Silver nicht und prophezeite Obama den Sieg.
Sogar im höchst umstritten Florida lag er richtig. Silver erklärte, Obama habe eine minime 50,3 %-Chance. Das jetzt veröffentlichte Ergebnis zeigt: Obama hat 49,9 % und Romney 49,3 % errungen.
Keiner hat die Ergebnisse so präzis vorausgesagt wie er. Für die meisten grossen Institute sind diese Wahlen ein Sturz ins Ungewisse. Sie müssen sich eingestehen, dass ihre Forschungsmethoden veraltet sind und nicht mehr funktionieren.
Ist Meinungsforschung eine Wissenschaft oder Hokuspokus?
Die Frage, ob Meinungsforschung überhaupt eine Wissenschaft oder eben Hokuspokus ist, kommt immer dann hoch, wenn sich die Meinungsforscher täuschen. Eines machen die Ergebnisse jedenfalls deutlich: Die bisher angewendete wissenschaftliche Methode taugt nicht mehr.
Es genügt nicht mehr, einfach 1‘200 Telefoninterviews durchzupeitschen, die Ergebnisse mit einem Computerprogramm etwas zurechtzubiegen, einige Vergleiche mit früher anzustellen - und dann zu glauben, das Schlussresultat würde richtig herauskommen.
Nate Silver arbeitet nach einer völlig neuen Methode. Wie die im Detail aussieht, enthüllt er natürlich nicht. Jedenfalls führt er keine eigenen Meinungsumfragen durch, sondern interpretiert bestehende – aber eben anders.
Wie oft gehen die Leute in die Kirche?
Zudem verwertet er eine ganze Palette anderer Faktoren. Er beobachtet, wie stark die einzelnen Wahlkampfauftritte der Kandidaten besucht werden. Er bezieht die Klick-Zahlen der Webseiten der einzelnen Parteien und Kandidaten ein – ebenso die Einschaltquoten der Wahlsendungen. Wie viele Spendengelder erhalten die einzelnen Kandidaten? Er untersucht die ideologische Haltung der bekannten Meinungsforscher. Er eruiert, wie stark die einzelnen TV-Spots der verschiedenen Kandidaten und Parteien beachtet werden. In seine Modellrechnung fliessen demografische Entwicklungen ein, ebenso Untersuchungen darüber, wie oft die Leute in den einzelnen Staaten in die Kirche gehen, ob sie viel Sport treiben, wie beliebt ihr Bürgermeister ist, ob sie Waffen tragen.
Vor vier Jahren schon hatte Nate Silver mit seiner Methode das Wahlergebnis genauer vorausgesagt als seine Konkurrenten (nur in Indiana lag er ganz knapp daneben). Trotzdem lachten damals viele über ihn. Das blinde Huhn habe eben Glück gehabt.
Die Kröten im Hals
Nur die grosse New York Times glaubte an ihn. Seit zwei Jahren veröffentlicht sie regelmässig seinen Blog „FiveThirtyEigt“. (538 Mitglieder zählt das Elektoren-Gremium, das den Präsidenten wählt.) 70 Prozent jener Leserinnen und Leser der New York Times, die sich für Politik interessieren, klicken Nat Silvers Kolumne an.
Jetzt ist er vollends zum Star geworden. Die Talkshows der Fernsehstationen reissen sich um ihn.
Die Wahlen sind nicht nur eine bittere Pille für Mitt Romney und Co. Auch den grossen Meinungsforschern steckt manche Kröte im Hals fest.