Es war ein Spektakel, wie es selbst die von Dramen verwöhnte (oder geplagte) indische Öffentlichkeit selten so drastisch zu sehen bekommt. Bühne war das Bezirksgericht von Delhi, wo sich am letzten Montag zahlreiche Studenten und Lehrer eingefunden hatten. Sie solidarisierten sich mit einem Studentenführer, der auf dem Campus der Jawaharlal Nehru-Universität – landesweit bekannt unter dem Kürzel JNU – wegen ‚Aufwiegelung gegen den Staat’ verhaftet worden war.
„Hoch lebe Mutter Indien“
Einige hatten den Gerichtssaal gefüllt, andere standen im Freien, beobachtet von Fernsehkameras und Polizei. Kurz bevor die Gerichtsverhandlung begann, stürmten plötzlich Dutzende von Anwälten in den Saal, schrien die Zuschauer an – Anti-Nationale! Landesverräter! – und drängten sie mit Hieben aus dem Saal. Draussen geschah desgleichen. Zuschauer und Journalisten wurden von schwarzgewandeten Schlägertrupps niedergerungen, Kameras flogen zu Boden, Frauen wurden geohrfeigt, Alles begleitet vom Ruf Bharat Mata Ki Jay! – ‚Hoch lebe Mutter Indien!’
Als Frauen den Schutz von Polizeibeamten suchten, quittierten diese lakonisch: „Verschwindet von hier!“ Und als der Angeklagte Kanhaya Kumar vorgeführt wurde, löste sich der Polizeikordon um ihn auf, und Anwälte drangen laut schreiend auf ihn ein und bearbeiteten ihn mit Fäusten. Der Polizeichef von Delhi, von Journalisten auf die Passivität seiner Beamten angesprochen, lächelte milde: Es sei ein „minor scuffle“, nicht mehr. Und der stellvertretende Innenminister schoss auf dieselbe Frage zurück: ‚Ist etwa ein Mord verübt worden? Was soll die Aufregung?
„Freiheit für Kaschmir!“ auf dem JNU-Campus
Es kam noch besser. Nicht nur die Studenten zogen anderntags in einem Protestmarsch zum Parlament. Auch mehrere hundert Anwälte gingen auf die Strasse und schrien, als wären sie die Opfer. Sie waren es, die vor dem Tatort des Vortags Kerzen entzündeten, für die ‚Helden’, die mit den antinationalen Elementen kurzen Prozess gemacht hatten. Die Rädelsführer, darunter ein BJP-Abgeordneter, wurden mit Girlanden bekränzt. Obwohl Dutzende von Videos die Hooligans gefilmt hatten, reichte die Polizei lediglich Klage gegen ‚Unbekannt’ ein.
Das Gericht war nur ein Nebenschauplatz. Die Hauptbühne war der JNU-Campus. Am 9.Februar hatte dort eine radikale Studentenorganisation einen Gedenkprotest für den kaschmirischen Untergrundkämpfer Afzal Guru abgehalten. Guru war 2012 wegen Teilnahme am Angriff auf das Parlament (2001) gehängt worden, obwohl der Schuldspruch lediglich aufgrund von Indizien gefällt worden war. Teilnehmer skandierten lautstark ‚Tod für Indien!’, ‚Hoch lebe Pakistan!’, ‚Freiheit für Kaschmir!’.
Der Innenminister zitiert einen gefälschten Tweet
Zweite Tage später, bei einer anderen Veranstaltung, rief auch der Studentenführer Kumar „Azadi!“ Aber er wollte ‚Befreiung’ von Armut, Kastenunterdrückung, Marktwirtschaft – nicht von Indien. Kurz darauf tauchte nach einem Protest der Hindu-Studentenorganisation ABVP und eines BJP-Politikers plötzlich die Polizei auf dem Campus auf, verhaftete Kumar und durchsuchte Schlafräume der Studenten. Es war das erste Mal in Indien, dass die Polizei ohne Bewilligung der Verwaltung ein Uni-Gelände betreten hatte.
Es zeigte sich rasch, dass dies nicht ein plumper Fehlgriff war. Gleichentags noch liess sich der Innenminister vernehmen: Die Einheit des Landes sei in Gefahr, weil ‚anti-nationale Elemente’ eine staatlich subventionierte Lehranstalt unterwanderten. Als Beweis griff er einen – offensichtlich gefälschten – Tweet von Hafiz Saeed auf, dem Führer der pakistanischen Terrorgruppe Lashkar-e-Tayba, in dem die Demonstranten beglückwünscht wurden. Die Erziehungsministerin doppelte nach: Eine Beleidigung von Bharat Mata werde nicht geduldet.
Kette nationalistischer Repressionen
Kumar wurde Aufwiegelung gegen den Staat vorgeworfen, einem Paragrafen, mit dem die britischen Kolonialherren Unruhestifter wie Mahatma Gandhi ins Kittchen gebracht hatten; das Strafmass lautet auf ‚lebenslänglich’. Der ‚Beweis’ war ein Video mit Kumars „Azadi“ – doch die Tonspur stammte aus der aufrührerischen Veranstaltung, die Pakistan hochleben liess und Indien den Tod wünschte. Es war wiederum eine billige Fälschung. Doch der Schaden in Form eines landesweiten Twitter-Sturms war getan. Man könnte auch sagen: Twitter- und Video-Fälschung hatten ihren Zweck erfüllt.
Wem dieses Spektakel auf zwei nationalen Fernseh-Bühnen noch nicht die Augen öffnet, muss den Zwischenfall lediglich in eine Kette von Zwischenfällen einfügen, die sich seit Monaten an Universitäten überall im Land abspielen. Kritische Lehrer und Studentengruppen werden aufs Korn genommen, sei es durch Mobbing (wie im Fall eines Professors in Varanasi), oder dem Ausschluss aus der Universität. Hindutva-Kaderleute werden an die Spitze von Hochschulen (wie dem Film-Institut in Pune) berufen, kritischen Sozialforschungs-Anstalten werden Fördergelder entzogen.
Suizid eines Dalit-Studenten
Der Modus operandi ist immer der gleiche: Mitglieder der ABVP provozieren Auseinandersetzungen, ein hochrangiger BJP-Politiker fordert ein Ende der anti-nationalen Agitation, die Erziehungsministerin verlangt von der Universitätsleitung Massregelungen. Diese gibt klein bei – der Varanasi-Professor wurde entlassen, Studentenorganisationen wurden verboten, das Pune-Institut erhielt einen Direktor, der mehr von den Veden versteht als vom Filmemachen. Befreundete Medien und elektronische soziale Netzwerke gaben kräftig Flankenschutz.
An der Universität von Hyderabad mündete der so geschürte Konflikt in den Suizid eines Dalit-Studenten, der aus dem Haus gewiesen worden war. Rohit Vemula, der erste Dalit seines Dorfs, der es zum Doktoranden gebracht hatte, klagte in einem ergreifenden Selbstmordbrief: „My birth is may fatal accident. For some people, life itself is a curse.(...) Let my funeral be silent and smooth. Behave like I just appeared and went. Know that I am happier dead than being alive. (...) No one is responsible for my act of killing myself but me“.
Die Feindbilder stehen auf beiden Seiten fest
Der Tod Rohits löste landesweite Proteste aus. An mehreren Universitäten kam es zu Streiks, nicht selten angeführt von Dalits. Die Regierung bemühte sich hastig um Schadenbegrenzung. In Indien stehen immer Wahlen an. Die Dalits und Ureinwohner sind vom Bildungssystem grob vernachlässigt (weniger als drei Prozent der Dalit-Haushalte haben einen Graduate in ihrer Mitte). Aber mit 22 Prozent Bevölkerungsanteil sind sie eine wichtige Wählergruppe.
Rohit Vemula ist auch in den laufenden Protesten in Delhi eine emotionaler Sammelpunkt. Nun kommt die Justizfarce hinzu. Das Schauspiel, in dem ein Studentenführer mithilfe gefälschter Videos auf Lebenslänglich verklagt wird, während Hooligans in Standesuniform straffrei ausgehen, hat landesweit neue Proteste ausgelöst. Es scheint, dass – auf beiden Seiten – der Feind erkannt, der Krieg erklärt und die Herausforderung angenommen worden ist.
Modis Kalkül dürfte nicht aufgehen
Viele Beobachter sind überzeugt, dass die Strategie der staatlich geförderten Hindutva-Kräfte – die Übernahme und ideologische Kontrolle des gesamten Schulwesens – nicht gelingen wird. Indien hat eine hellwache Zivilgesellschaft. Das Kalkül Narendra Modis, ein autoritäres politisches System mit einer liberalen Wirtschaftsordnung zu schaffen – China light quasi – dürfte nicht aufgehen. In einem Land mit einer siebzigjährigen erfolgreichen Demokratie lassen sich politische Rechte – Redefreiheit etwa – und wirtschaftliche Aspirationen nicht trennen.
„Make In India“, Modis Aufruf zur Schaffung von Arbeitsplätzen, wird nicht gelingen, wenn er mit dem Slogan Hate in India daherkommt. Das Resultat droht dann dort zu landen, wo politische Gegner Modis Brimborium immer schon geortet haben: Fake in India.