Vor etwas über einem Jahr errang Narendra Modi mit dem Versprechen von Development und Good Governance einen historischen Wahlsieg. Heute ist im vielstimmigen und schrillen Chor der öffentlichen Meinungsäusserung davon noch kaum etwas zu hören. Stattdessen sind die Medien voll von Fememorden gegen Mitglieder von Minderheiten und Dalits, kritische Persönlichkeiten werden mit Kübeln von Tinte übergossen, und es wütet das digitale Äquivalent davon: hasserfüllte Tweets und FB-Einträge, millionenfach gestreut.
Modi hatte es verstanden, die sozialen Medien in eine potente Wahlkampfwaffe zu schmieden. Nicht nur gingen gegnerische Angriffe im gezielten und raschen Gegenfeuer unter. Seine Botschaft beherrschte den öffentlichen Diskurs, angereichert um die ikonische Gestalt ihres Autors. Schon damals spürte man, dass seine Kommunikationsstrategie nicht nur Inhalte vermitteln sollte; sie war darauf angelegt, den ganzen Diskurs zu kontrollieren.
"Prophet eines neuen Hindu-Reichs"?
Sie tut es weiterhin. Kürzlich besuchte er die USA, sprach vor der UN-Generalversammlung scharte Wallstreet-Banker um sich, und teilte im Silicon Valley mit Mark Zuckerberg das Podium eines Town Hall Meeting. Tag um Tag waren indische Fernsehkanäle und Zeitungen voll von Modis Triumphzug. Dass die amerikanischen Medien von ihm kaum Notiz nahmen, dass gerade in Kalifornien Modi-kritische Banner und Plakate die Anlässe störten – nichts davon bekam der einheimische Fernsehkonsument mit.
Diese Strategie des message control ist nichts Neues. Im Wahlkampf sprach Modi einzig über Entwicklung, Gute Regierungsführung, soziale Güter wie Wasser, Bildung und Sauberkeit. Aber bevor er das Podium bestieg, so erzählten mir Journalisten, war die Stimmung im Publikum bereits durch Lokalgrössen aufgeheizt worden – mit einer anderen Botschaft: Modi ist der Prophet eines neuen Hindu-Reichs, der Vernichter der Landesverräter aus dem Kongress, der Mann, der Indiens Muslime als Pakistans Quislinge entlarvt.
Selbst westliche Journalisten erliegen dem fabrizierten Charme
Er selber brauchte gar nicht mehr darauf einzugehen. Und die Medien assen ihm aus der Hand. (Ein kürzliches Modi-Porträt im Tages-Anzeiger bewies, dass selbst westliche Journalisten diesem fabrizierten Charme erliegen. Der Text hätte sich gut gemacht auf der Homepage Modis, so hingerissen war die hors-sol-Korrespondentin aus Singapur von diesem unermüdlichen Schaffer und visionären Staatsmann).
Auch Premierminister Modi bleibt über einen der vielen ihm verfügbaren Kanäle täglich präsent. So kann er einem verletzten Sportler rasche Genesung wünschen, seine Trauer über einen überfahrenen Hund tweeten, oder einer Sängerin sein Beileid über den Tod ihres Sohns ausdrücken. Sie zeigen den Millionen Twitter-Besuchern, wie sehr sich ihr Landesvater jedes Bürgers annimmt.
Kuhfleisch im Kühlachrank
Bei einem Mann, der seine politische Kommunikation so obsessiv kontrolliert, sind aber auch die Leerstellen buchstäblich ‚von Bedeutung’. Als am 28. September in einem Dorf bei Delhi ein Muslim aus seinem Bett geholt und von einem Mob gelyncht wurde, weil in seinem Kühlschrank angeblich Kuhfleisch lagerte, war von @narendramodi nichts zu vernehmen. Es dauerte zehn Tage und bedurfte der sanften Mahnung des Staatspräsidenten, bis er sich in einem Zeitungsinterview äusserte.
Seinen Hindutva-Anhängern genügte das lange Schweigen ihres Führers. Falls es noch eines deutlicheren Zeichens bedurfte, brauchten sie nur zwischen den Zeilen des Interviews zu lesen: Der ‚Zwischenfall’ sei ‚bedauerlich’, hiess es da. Er habe den Hindus und Muslimen schon letztes Jahr gesagt, sie sollten lieber die Armut bekämpfen als einander. Doch halt – wo wurde denn da gekämpft? Der Mann war vom Lynch-Mob aus dem Bett geholt worden! Dann gab es noch einen drauf: Solche ‚Zwischenfälle’ gebe es eben, wenn Säkularisten die religiösen Gefühle der Menschen verletzten. Und überhaupt: Das Ganze gehe die Zentralregierung gar nichts an, denn es sei ja in einem Bundesstaat passiert.
Kein Kuhfleisch im Kühlschrank
Orwell hätte nicht nur an Modi seine Freude. Auch andere Spitzenpolitiker überschlugen sich in verbalen Kapriolen. Schon Newton habe gesagt, auf jede Aktion folge eine Reaktion, sagte der BJP-Lokalchef. Die Tötung des Muslims sei die Reaktion gewesen, also sei Derjenige verantwortlich, der die ‚Aktion’ ausgelöst habe. (Dass im Kühlschrank des Opfers gar kein Kuhfleisch lagerte, war nebensächlich). Der Kulturminister des Landes: Der Mob habe sich anständig verhalten – er hätte ja auch noch die Tochter des Manns vergewaltigen können. Ein BJP-Parlamentarier bedauerte die Vollstreckung des Urteils auf blossen Verdacht hin, sprich: der Lynchmord wäre sonst legitim gewesen. Das meinte auch das Magazin Panchjanya, Leitmedium des Hindutva-Kaderverbands RSS: In den Veden verlange der ‚Mord’ an einer Kuh den Tod des Täters.
Die Spinmasters der Hindutva liessen dieser Rhetorik eine Woche lang freien Lauf, bevor sie die Demagogen aus dem Verkehr nahmen. Die Botschaft war angekommen. Überall im Land meldeten sich Cow Protection Committees – zweihundert allein in Gurgaon – und schworen, dass in ihrer Nachbarschaft keine Kuh von einem Unreinen angerührt würde. BJP-Regierungen in mehreren Bundesstaaten sind dabei, die Schlachtverbotgesetze zu Blasphemiegesetzen zu verschärfen – eine Hindu-Scharia quasi.
Ambivalente Doppelrolle
Bald zeigten sich auch die Folgen: Ein junger Mann wurde zu Tod geprügelt, als er eine Kuh häutete, die am Strassenrand verendet war. Anderswo verfolgte ein motorisierter Mob einen Lastwagen mit Kühen und Büffeln, brachten ihn zum Anhalten, schlugen die fünf Begleiter spitalreif; einer von ihnen verstarb. Sie waren nicht auf dem Weg zum Schlachthof gewesen, sondern einem Viehmarkt.
Die Kampagne für ein sauberes India? Die Make in India-Initiative zur Schaffung von Arbeitslätzen? Andere wichtigen Reformen, die Modi angestossen hat? Kaum jemand spricht davon. Im Ausland gibt er sich als der technofreundliche, bürgernahe und moderne Staatsmann. Zuhause gelingt ihm der Sprung über seinen Schatten immer weniger gut. Doch will er das überhaupt? Vielleicht sucht er diese ambivalente Doppelrolle, vielleicht soll hinter der Maske das Gesicht hervorschauen. Dies ist, scheint er seinen Anhängern zuzuzwinkern, eine Maske, kein Lifting!
Die useful idiots im Medienzirkus bei Laune halten
Das Nebeneinander zwischen kulturellem Atavismus und ökonomischer Modernität ist kein Spagat. Es ist der Versuch einer Arbeitsteilung: Der RSS (reich vertreten im Kabinett) predigt den neuen Fundamentalismus, in dem die Gleichung gilt: Demokratie=Demografie. Die Mehrheit hat das Recht, ihre Lebensform durchzusetzen, auch gegenüber Minderheiten.
Im Gegenzug darf die politische Tochter, die nun am Ruder ist, das Hohelied des Marktes und der Globalisierung anstimmen, für das die paar gemässigten Minister ans Mikrophon dürfen. Es widerspricht zwar den national-autarkistischen Zielen der Hindutva. Aber damit das Gesamtkalkül aufgeht, müssen die ökonomische Elite, die useful idiots im Medienzirkus und die konsumhungrige Mittelklasse bei Laune gehalten werden.
Maske
Ich habe bisher immer angenommen, dass sich Modi vom Ideologen zum Machtmenschen gewandelt hat: Wenn er wählen muss, hält er sich lieber an der Macht als an die Direktiven aus Nagpur, der RSS-Zentrale. Ich bin nicht mehr so sicher. Natürlich ist er ein Machtmensch mit autoritären Zügen. Aber gerade sein Schweigen, und die Doppeldeutigkeit seiner Stellungnahmen, lassen befürchten, dass das Gesicht mit der Designerbille tatsächlich eine Maske ist. Ihm kommt zupass, dass Kapital und Technologie gesinnungsneutral sind. Ein Smartphone hilft dem Bauern, seinen Reis zu verkaufen; es kann einer Frau in Not beistehen. Aber das Handy in der einen Hand kann auch im Nu einen Mob mobilisieren, der in der anderen Hand einen Schlagstock führt.