In einer historischen Wahl gewann die hindu-nationalistische BJP zum dritten Mal eine Parlamentsmehrheit. Entgegen den meisten Projektionen musste sie jedoch Federn lassen. Der Allmachtsanspruch von Premierminister Modi wurde zurückgewiesen.
Ein Sieg, der sich wie eine Niederlage anfühlt – und eine Niederlage, die den Verlierer strahlen lässt. Das indische Wahlvolk hat nicht gezögert, Premierminister Narendra Modi in die Schranken zu weisen, trotz der galaktischen Popularitätswerte, die Demoskopen ihm seit Jahren attestieren. Gleichzeitig hat der Kongress-Politiker Rahul Gandhi, den Modi und sein Innenminister Shah als «Baba» – «der niedliche Kleine» – verunglimpften, in einem erbarmungslosen Wahlkampf ein Profil gewonnen, das ihm kaum jemand zugetraut hatte.
Allianzpartner
Laut vorläufigen Resultaten hat die BJP und ihre «National Democratic Alliance» mit einem Dutzend Regionalparteien 289 von 543 Sitzen gewonnen. Sie verfügt damit über eine Mehrheit und wird die nächste Regierung stellen. Die INDIA-Allianz von Oppositionsparteien gewann 232 Sitze.
Warum also dieser Widerspruch zwischen numerischem und «gefühltem» Resultat? Der wichtigste Faktor ist der Vergleich mit den Resultaten der vergangenen Wahl. Im Jahr 2019 gewann die BJP allein 301 Sitze, diesmal sind es 243. Die simple Parlamentsmehrheit liegt bei 272 Sitzen. Die BJP wäre diesmal also nicht mehr fähig, ohne Hilfe der Allianzpartner zu regieren, umso mehr als die Minderheitspartner diesmal sehr gut abgeschnitten haben. Damit garantieren sie Modi eine weitere Amtszeit.
Das massive Übergewicht der BJP und die totale Fokussierung der BJP auf die Person ihres Parteipräsidenten hatten zur Folge, dass die Regierungspolitik bisher fast ausschliesslich von ihm und seinem Innenminister diktiert wurde. Dies betrifft namentlich die hindu-nationalistische Ausrichtung, die den Minderheitspartnern mit ihrem meist regionalen Fokus keineswegs behagte. In seiner dritten Amtszeit wird Modi auf solche Sensibilitäten Rücksicht nehmen müssen. Bereits in seinem ersten «Sieges-Tweet» freute er sich auf die Zusammenarbeit mit den … «Allianzpartnern».
Das ramponierte Allmacht-Image des Premierministers
Es entbehrt nicht der Ironie, dass die siegreiche Koalition in jenen Staaten besonders gut abgeschnitten hat, in denen zwei regionale Partner den Ton angeben. Im entscheidend wichtigen Bundesstaat Uttar Pradesh (UP) mit seiner massiven Parlamentsvertretung (80 Sitze, bisher alle mit BJP-Parlamentariern) reduzierte sich diese Zahl auf 32. Es ist der Bundesstaat, in dem Modi und sein lokaler Satrap Yogi Adityanath – ein Mönch in orangener Robe – die religiöse Polarisierung am weitesten getrieben hatten.
Ausgerechnet in UP hat handkehrum die INDIA-Allianz der Oppositionsparteien, und namentlich die Kongresspartei unter Rahul Gandhi, besonders gut abgeschnitten. Rahul Gandhis Vorsprung vor seinem BJP-Gegner im Wahlkreis von Rae Bareli betrug 300’000 Stimmen, doppelt so viele wie jener des Premierministers in Varanasi. In der letzten Wahl hatte Gandhi diesen Sitz verloren, während Modis Vorsprung in Varanasi im Jahr 2019 450‘000 Stimmen betrug; sie sind diesmal um beinahe zwei Drittel geschrumpft.
Der wichtigste Grund jedoch, warum die Verlierer heute jubilieren, ist das ramponierte Allmacht-Image des Premierministers. Die Wahlkampagne der BJP war ausschliesslich auf die Person Modis fokussiert, so sehr, dass selbst er in seinen Reden selten von den Versprechen oder Leistungen seiner Regierung oder seiner Partei sprach. Wenn er die Leistungen an den Fingern der Hand aufgezählt hatte, landete der gestreckte Zeigefinger unweigerlich auf seiner Brust.
Hoher Anspruch und Niederlage
Die Massenmedien und die systematische Manipulation der Sozialen Medien trugen dazu bei, dass Modi immer mehr einem Messianismus zum Opfer zu fallen schien. Einem Interviewer erklärte er während des Wahlkampfs, er habe bisher immer gedacht, seine Mutter habe ihn geboren. Jetzt frage er sich manchmal, ob er nicht auf der Welt erschien, um eine ungeheure Aufgabe zu erfüllen.
Es war Hybris und nicht solide Wähleranalyse, die seine Forderung «Abki bar/Char soh par» – Gebt mir diesmal mehr als 400 (Sitze)! – zum wichtigsten Wahlslogan machte. Kommentatoren argwöhnen, dass viele Millionen Arme (namentlich Dalits) daraus schlossen, die Regierung werde mit einer solchen Mehrheit die Verfassung ändern. Für sie ist die Verfassung mit ihrer Garantie des sozialen und ökonomischen Ausgleichs die wohl wichtigste Überlebenschance. Die bisherige Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung, gekoppelt mit der Einschränkung individueller Grundfreiheiten liess sie dabei nichts Gutes ahnen.
Gerade im Licht dieses Anspruchs auf Alleinherrschaft, und der Insistenz, mit der Modi ihn als Vertrauensbeweis einforderte, ist das Wahlresultat eine Niederlage für ihn. Damit ist auch sein Nimbus als alleiniger Heilsbringer dahin. Die Wähler haben zum Ausdruck gebracht, dass sie sich eine demokratische Streit- und Kompromisskultur nicht nehmen lassen wollen. Dies gilt auch für die Regierungspartei. Ähnlich wie bei den amerikanischen Republikanern wurde parteiinterner Dissens in den letzten zehn Jahren unterdrückt und von den straff gelenkten Leitmedien sofort im Keim erstickt.
Allerdings halten er und sein Innenminister die Hebel der staatlichen Macht immer noch in ihrer Kontrolle. Die Partei sitzt auf einer Kriegskasse, die auf mehrere hundert Millionen (Dollars, nicht Rupien) geschätzt wird. Der Sturz der Börsenkurse am Dienstag war zudem ein Indikator, wie sehr auch die Gross-Unternehmen mit den Machtträgern verbandelt sind. Zusammen mit dem unbekümmerten Einsatz von Polizei- und Justizgewalt bildet das Junktim von Zucker und Peitsche eine akute Bedrohung für jede Kleinpartei oder jeden unabhängigen Politiker.
Die Opposition mit ihrem Kürzel INDIA war mit grosser Mühe zusammengekommen. Ihre einzige Klammer ist der Widerstand gegen Modi. Falls regionale Konstellationen einen Absprung nahelegen, könnte der Zusammenhalt rasch bröckeln. Dennoch haben sie mit ihren Wahlabsprachen gezeigt, dass sie auch über ihren Schatten springen können. Und jetzt wissen sie zudem, dass die BJP nicht mehr mit dem Anspruch auftreten kann, die einzig legitime Repräsentantin des Volkswillens zu sein.