Fuer den Ausländer ist der indische Gruss – zusammengepresste Handflächen vor der Brust – eines der stereotypen Erkennungszeichen des Inders, einprägsam wie der rote Punkt auf der Stirn der Frau oder das Wackeln des Kopfs, das nur der Kenner sofort als Ja oder Nein erkennt (und oft genug als Ja und Nein).
Es ist eine formschöne, weiblich wirkende Geste, die, im Gegensatz etwa zu unserem "männlichen" Händedruck, gleichzeitig Freundschaftlichkeit und Distanz markiert, Ehrerbietung und Reserviertheit. Aber das ‚Namasté‘ ist auch eine etwas komplizierte, verrenkende, Bewegung, und deshalb verwenden es die Inder meist nur fuer formelle Anlässe.
Doch wie gruessen sie einander im Alltag?
Eigentlich überhaupt nicht. Ich wohne seit etwa einem Jahr in diesem kleinen Dorf namens Awas, etwas ausserhalb von Mumbai. Als Zugezogener, und als Ausländer, empfinde ich es als selbstverständlich, meinen Miteinwohnern höflich zu begegnen. Bei Spaziergängen oder auf dem Fahrrad grüsse ich daher immer als Erster, mit einem ‚Namasté‘ (verzichte aber wohlweislich auf das Händefalten, um nicht vom Fahrrad zu fallen).
Doch ob mit oder ohne gefaltete Hände, die Leute geben den Gruss nicht zurück. Manche, vor allem Frauen, schauen mich nur mit offenem Mund an, als hätte ich eine ungehörige Bemerkung gemacht. Bei den Männern dagegen kommt oft eine Vokalreaktion, die ich nur als Grunzlaut beschreiben kann – als entfahre ihnen ein erschrockener Ausruf. Und ich bin sicher, dass sie mir dann lange und verständnislos nachschauen, während ich weiterradle.
Aufmerksam geworden, habe ich begonnen, die Begrüssungsrituale der Dorfleute zu beobachten. Ich stelle fest, dass kein ‚Salut‘ oder ‚Gruezi‘ oder ‚Tag wohl‘ einen Schwatz vor dem Dorfladen oder am Wegrand einleitet. Sie beginnen einfach mit ihrem Anliegen, oder sie stehen zuerst herum, schweigend, und setzen erst nach einigen Minuten mit der Konversation ein.
Was mir wie eine peinlich lange Pause vorkommt, scheint sie nicht im geringsten zu stören. Es ist, als seien sie gar nicht angewiesen auf die eigene ‚Anmeldung‘, ebensowenig wie auf die (An)Erkennung durch den Andern, wie wir dies tun, wenn wir den Gruss mit einem Gegengruss quittieren.
Eine ähnliche Diskrepanz stelle ich beim Danken fest. Was bei uns schon fast zwanghaft wirkt – immer und jederzeit wird ‚Merci‘ gesagt – fällt in Indien, zumindest im noch nicht globalisierten Indien, meist gänzlich weg.
Auch hier war es meine Dienstbeflissenheit, die mich auf die Spur brachte. Denn das Dankeschön im Westen muss ja mit einem ‚Bitte‘ oder ‚gern geschehen‘ quittiert werden. Aber jedesmal, wenn ich mich hier bedanke, gibt es keine Quittung, und ich fuehle mich etwas betupft.
Es gibt Leute, die dies spüren, aber da sie kein Wort fuer ‚Gern geschehen‘ haben, antworten sie ebenfalls mit ‚Thank you‘. Die meisten indischen Sprachen haben aber gar kein Wort fuer ‚Dankeschön‘, und das ‚Shukriya‘ oder ‚Meherbani‘ sind Lehnwörter und haben keinen Platz in der Umgangssprache – ähnlich wie das ‚Namasté‘.
Wie beim Grüssen hat mir dieses unterschiedliche Verhalten die Augen dafür geöffnet, was für ein kompliziertes Ritual Geben und Nehmen eigentlich ist. Die Geste des Gebens schafft ja für einen Augenblick ein asymmetrisches Verhältnis – der Empfangende ist in der Schuld des Gebenden. Aber wenn er dann dafür ‚Danke‘ sagt, und dieses ‚Danke‘ wird zudem durch das ‚Gern geschehen‘ akzeptiert, ist die Symmetrie wieder hergestellt: Man ist sich quitt und, in einem formellen Sinn, gegenseitig nichts schuldig.
Den Indern dagegen scheint es nichts auszumachen, die Asymmetrie von Geben und Nehmen auszuhalten. Wie beim schwerelosen Schweigen bei der Kontaktaufnahme nehmen sie die Gabe entgegen, wortlos, kommentarlos. Bei einer Geschäftstransaktion – im Laden zum Beispiel – ist dies noch verständlich, denn die Dienstleistung wird schliesslich bezahlt. ‚Service inbegriffen‘ denke ich spöttisch, wenn ich sehe, wie der Tankstellenwärter dem Autofahrer vor mir Benzin abfüllt, die Scheiben wischt, das Wechselgeld holt – und keines Blicks gewürdigt wird.
Doch selbst wenn man Geschenke gibt, kommt kein Merci. Wir kommen aus der Schweiz zurueck, bringen den Nachbarkindern ein Spielzeug, den Angestellten Süssigkeiten oder etwas zum Anziehen – sie nehmen es wortlos entgegen, nicht gefühllos, aber ohne den verbalen Bückling. Zuerst bin ich irritiert: und unterdrücke den Gedanken ‚undankbares Pack!‘.
Doch dann spüre ich: Das Nicht-Danken - bei uns schier nicht zum Aushalten, denn wird Einem nicht schon als Kind eingebläut, Merci zu sagen? – mündet hier in eine wortlose, schwerelose, Situation. Es ist nicht Undankbarkeit, sondern: die Dankbarkeit muss nicht ausgedrückt zu werden.
Die (wiederum: nicht-globalisierten) Inder haben also offenbar gelernt, mit der Asymmetrie zu leben. Sie wissen natürlich auch, dass sich die unverdankten Gaben irgendwo addieren, dass sich Aktiv- und Passivposten bilden, und dass das Guthaben irgendwann abgerufen werden kann.
Während bei uns die Tendenz vorherrscht, immer reinen Tisch zu machen, niemandem etwas zu schulden, ist das Leben des Inders ein dicht gewobenes Netz von offenen Rechnungen. Und da Jeder bei Jemandem in der Kreide steht und bei Anderen Gläubiger ist, braucht er sich gar nicht zu schämen. Er muss nicht wortreich danken, wohl wissend, dass man sich ein andermal, auf andere Art, wird erkenntlich zeigen muessen.
Es ist wie beim fehlenden Namasté: Wir kennen einander, wir anerkennen einander – worüber man nicht reden muss, kann man schweigen.