«Zürcher Sängervater» – dieser antiquierte Titel ist meist auch schon alles, was selbst historisch Interessierte mit Hans Georg Nägeli verbinden. Das 250. Jubiläum seines Geburtstages am 26. Mai scheint das nun aber gerade zu verändern. Nebst zahlreichen Festlichkeiten erscheint auch eine umfassende wissenschaftliche Biografie des Basler Musikwissenschaftlers Martin Staehelin.
«Hans Georg Nägeli (1773–1836)» von Martin Staehelin ist ein eigentliches Lebenswerk. Während ein erster Band auf fast 800 Seiten «Einsichten in Leben und Werk» vermittelt, enthält ein zweiter «Dokumente und ausgewählte Schriften». Staehelin begann sich schon 1973 als junger Privatdozent an der Uni Zürich mit dem immensen Nachlass von Hans Georg Nägeli zu befassen. Berufungen nach Bonn und Göttingen erschwerten jedoch die Arbeit am Nägeli-Forschungsprojekt, dem sich Staehelin erst wieder nach seiner Emeritierung ganz widmen konnte.
Staehelins Nägeli-Biografie ist eine beindruckend akribische, in ihrer detailversessenen Ausführlichkeit aber schwer lesbare Arbeit, ein Werk für Spezialisten. Doch wer etwas wirklich genau wissen will über den Sängervater Nägeli, sein überaus vielseitiges und verzetteltes Komponieren, Schreiben und Wirken und seinen entsprechend enormen Nachlass, kann es nun erfahren. Das ist ein grosses Verdienst, denn bis in den heutige Wikipedia-Eintrag grassieren zu Nägeli vor allem Klischees und Falschmeldungen.
Wunderkind aus Wetzikon
Nägeli wird 1773 als jüngster von vier Söhnen des Pfarrers Hans Jakob Nägeli in Wetzikon geboren. Das Elternhaus pflegt Musik und Gesang und Hans Georg, der schon mit acht Jahren schwierige Beethoven-Sonaten spielt und angeblich mit zehn den Kirchenchor dirigiert, gilt als Wunderkind. Mit 17 geht er zur weiteren musikalischen Bildung nach Zürich. Um diese zu bezahlen, eröffnet er 1993, also mit zwanzig Jahren, mit einem kleinen Startkapital seines Vaters eine Musikalienhandlung mit Leihbibliothek.
1794 wird Nägeli auch Verleger, indem er das in Zürich damals populäre Lied «Freut Euch des Lebens» drucken lässt, das weit über die Schweiz hinaus einen triumphalen Erfolg erlebt und damit seinen Namen bis Berlin und Wien berühmt macht. Den Druck des Liedes ziert Nägeli nämlich mit der forschen Byline «Zürich bey Hans Georg Nägeli». Während der Text des Liedes bekanntermassen vom Zürcher Dichter Johann Martin Usteri stammt, galt Nägeli deshalb lange und noch bis in seinen heutigen Wikipedia-Eintrag als Komponist der Melodie.
Martin Staehelin weist nun in grosser Ausführlichkeit nach, dass er dies nicht war. Die Melodie entstand aller Wahrscheinlichkeit nach in den frühen 1790er Jahren auf einer fröhlichen Zusammenkunft der Zürcher Künstlergesellschaft, auf der Johann Martin Usteri sein beliebtes Gedicht vortrug. Sie setzt sich aus Motiven aus zwei damals beliebten Musikstücken zusammen: Der Refrain «Freut auch des Lebens» stammt aus dem Flötenkonzert in G-Dur von Friedrich Hartmann Graf, die Melodie der sieben Strophen aus dem Violinkonzert in Es-Dur von Luigi Borghi. Beide Notentexte zeigt Staehelin im Original, ein Beispiel für die hervorragende Illustration dieser Biografie.
Im Banne Pestalozzis
Seine Musikalienhandlung musste Nägeli 1807 verkaufen, um einen Bankrott zu verhindern, doch blieb er angestellt und das Geschäft trug weiterhin seinen Namen. Als Verleger blieb er zwar rührig, doch selten erfolgreich. So hatte Nägeli etwa auf der Suche nach exklusivem Notenmaterial bereits 1805 auf einer Auktion in Hamburg das Originalmanuskript der Partitur von J. S. Bachs h-Moll-Messe erworben. Weil sein weitherum publiziertes Angebot zur Subskription aber viel zu wenig Geld einbrachte, erfolgte diese musikgeschichtlich wichtige Publikation dann erst nach Nägelis Tod und in Zusammenarbeit mit einem deutschen Verlag.
Bereits 1805 gründet Nägeli in Zürich auch ein «Sing-Institut» mit verschiedenen Chören für Erwachsene und Kinder, aus dem der erste Männergesangverein hervorgeht. Als Kantor führt er in Zürich grosse Chorwerke und Messen auf. Sein Sing-Institut wurde zur Keimzelle für zahlreiche Gesangsvereine in Zürich und der ganzen Schweiz. Vortragsreisen in Süddeutschland führten dann in den 1820er Jahren zur Gründung der ersten deutschen Gesangsvereine.
Ganz im Banne von Johann Heinrich Pestalozzi, den er auch selbst kennenlernte, macht Nägeli nun die musikalische Volksbildung zu seinem Kernanliegen, der auch fast sein ganzes kompositorisches Werk dient. Zusammen mit einem Pestalozzi-Schüler entwirft er eine «Gesangsbildungslehre» nach pestalozzischen Grundsätzen. Er komponiert hunderte von mehrstimmigen Liedern, Rund- und Wechselgesängen und wird als Gründer der Schweizerischen Musikgesellschaft (1808) zu einer anerkannten Musikerpersönlichkeit der Schweiz.
«Begabt und risikofreudig»
Als solche wird er 1831 in den Zürcher Erziehungsrat gewählt und wirft sich mit Gusto in die damaligen Diskussionen um die Neugestaltung des Bildungswesens und der zu gründenden Universität. Mit Verve, grosser Selbstüberzeugung und vielen Memoranden und Voten kämpft er für eine Pädagogik im Sinne Pestalozzis. Als es darum geht, ein von Nägeli zusammengestelltes und in seinem eigenen Verlag publiziertes Gesangbuch für die Volksschule zu beurteilen, soll er gesagt haben, er kenne nur drei, die in dieser Frage richtig urteilen könnten: «Diese drei sind der Hans, der Georg und der Nägeli.» Ob die Anekdote (berichtet in der Wetzipedia.ch, ohne Quellenangabe) nun stimmt oder nicht – sie scheint das Wesen Nägelis recht gut wiederzugeben.
Nägeli verstarb 1836 überraschend nach kurzer Krankheit und wurde in Zürich mit einer grossen Trauerfeier, einer Gedächtnisfeier und zahlreichen Nachrufen geehrt. Sein Grab befindet sich auf dem Privatfriedhof Hohe Promenade. Seine Witwe und zwei überlebende Kinder lebten in der Folge weitgehend vom Verkauf seiner weitgespannten Korrespondenzen (etwa mit Beethoven) und Autographen – was den grossen Nachlass nochmals kompliziert.
Martin Staehlin fasst die ebenso vielseitige wie enthusiastische Persönlichkeit dieses Schweizer Pioniers der musikalischen Volksbildung in folgende Worte: «Er war begabt und begeisterungsfähig bis zur Hingabe, draufgängerisch und risikofreudig bis zur Realitätsferne; er war engagiert, ehrgeizig und mitunter aufsässig als Musikhändler, streitbar, geltungssüchtig und sich vergaloppierend als Politiker. Er war begnadet, wenngleich eitel und mitunter masslos als Redner, fortschrittsgläubig und visionär als Menschenbildner».
Martin Staehelin: Hans Georg Nägeli (1773-1836). Einsichten in Leben und Werk. Schwabe Verlag, Basel 2023.
Eine öffentliche Buchvernissage findet am Donnerstag, 22. Juni, 18.15 im Lesesaal der Musikabteilung der Zentralbibliothek Zürich im Predigerchor statt. Sie wird durch das Vokalensemble Zürich mit Werken von Hans Georg Nägeli musikalisch umrahmt.
Offizielle Jubiläumsfest-Website 250 Jahre Hans Georg Nägeli mit allen Veranstaltungen und Ticketshop: www.hgn250.ch