Nach dem ersten Durchgang der französischen Parlamentswahlen am gestrigen Sonntag steht das «Rassemblement National» von Marine Le Pen als klarer Sieger da. Dass die Kandidatinnen und Kandidaten der extremen Rechten bei der Stichwahl am kommenden Sonntag tatsächlich eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erzielen könnten, darf nach dem gestrigen Wahlabend allerdings bezweifelt werden.
Dieser erste Wahlgang hat, wie nicht anders zu erwarten, für reichlich wenig Klarheit gesorgt, was die künftigen politischen Verhältnisse in Frankreich angeht.
Sicher ist nur, dass die Franzosen sehr wohl gespürt haben, dass diese Wahl gestern durchaus eine historische war, bei der es darum ging, ob das Land nun tatsächlich kippt und den Weg zu einer illiberalen Demokratie einschlägt oder doch nicht. Mehr als 65% Beteiligung und damit fast 20% mehr als bei den letzten Parlamentswahlen 2022, sind dafür ein klares Indiz .
Sicher ist auch, dass Präsident Macron, nur drei Wochen nach den Europawahlen, eine zweite Schlappe hinnehmen musste. Seine Partei kam mit etwas über 20% nur auf Platz drei hinter dem «Rassemblement National» mit rund 34% und der vereinten Linken («Nouveau Front Populaire» – NFR) mit knapp 29% der Stimmen. Die Überreste der konservativen Partei «Les Républicains» bringen es auf 10%, nachdem ihr Parteipräsident, Éric Ciotti, sich und eine Reihe von Kandidaten mit der extremen Rechten verbündet, ja sich ihr de facto angeschlossen hatte.
Schlechtestes Ergebnis einer Regierungspartei
Noch nie in der 5. Republik hat eine amtierende Regierungspartei, wie jetzt Macrons «Renaissance», bei Parlamentswahlen derartig schlecht abgeschnitten.
Von bislang 240 Sitzen – die Mehrheit liegt bei 289 – dürften ihr in der kommenden Nationalversammlung nach dem 7. Juli nur zwischen 70 und 100 bleiben. Mit anderen Worten: Es hat sich definitiv ausregiert für das Macron-Lager, auch wenn Premierminister Gabriel Attal gestern Abend so tat, als könne er irgendwelche Koalitionen schmieden und als Regierungschef weiter im Amt bleiben.
Das Ergebnis für die Regierungspartei ist nichts weniger als die zu erwartende Konsequenz der von Präsident Macron betriebenen unverständlichen, widersinnigen, ja gefährlichen Parlamentsauflösung vor drei Wochen.
An ein Aufbäumen seiner ehemaligen Wähler mit dem Ziel, die extreme Rechte, der Macron de facto den Weg zur Macht eröffnet hatte, nun zu bremsen – daran hat wohl nur der Präsident selbst geglaubt.
Bardella gibt sich schon als Premierminister
Die extreme Rechte durfte nur drei Wochen nach dem Sieg bei der Europawahl derweil ein zweites Mal triumphieren. Marine Le Pen, die in ihrem Wahlkreis mit 61% bereits im ersten Durchgang gewählt wurde, trat als erste aller Spitzenpolitiker ans Mikrophon und forderte die Franzosen unmissverständlich und mehrfach auf, ihrer Partei am kommenden Sonntag eine absolute Mehrheit zu geben, damit Jordan Bardella, ihr politischer Ziehsohn, Sieger der Europawahlen und Shootingstar der Partei, Premierminister werden könne. Bardella selbst gab bei seinem Statement ganz unverhohlen den künftigen Regierungschef Frankreichs und vergass dabei auch nicht die klassische Floskel im Munde von Wahlsiegern, wonach er «der Premierminister aller Franzosen» sein werde.
Präsident Macron hielt sich derweil am gestrigen Wahlabend, ganz gegen seine Gewohnheiten, reichlich bedeckt, wenn auch nicht ganz. Nur wenige Sekunden nach den ersten Hochrechnungen liess er per Nachrichtenagentur AFP ein Kommuniqué heraus, in dem er sich, noch ziemlich schwammig, für eine «breite demokratische und republikanische Sammlungsbewegung gegen das «Rassemblement National» aussprach.
«Keine Stimme für das ‹Rassemblement National›»
Es brauchte weitere zwei Stunden bis endlich Regierungschef Attal in seinem Amtssitz Matignon vor die Mikrophone trat und glasklare Worte fand. Er sagte, was man vom geschwächten Regierungslager eigentlich seit drei Wochen erwarten durfte: Es gehe in der Stichwahl am kommenden Sonntag einzig und allein nur noch darum, dem «Rassemblement National» den Weg zu einer absoluten Mehrheit und damit zur Macht zu verstellen. Wörtlich: «Unser Ziel ist klar, es geht darum zu verhindern, dass das ‹Rassemblement National› im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit erlangt, die Nationalversammlung dominiert und das Land mit seinem verhängnisvollen Programm regiert. Keine Stimme für das ‹Rassemblement National›».
Eine klare Stellungnahme, die man von Emmanuel Macron schon seit drei Wochen erwartet hätte, die dem Präsidenten aber nicht über die Lippen kommen wollte.
Stattdessen spielte er noch bis vor wenigen Tagen das unwürdige Spiel, die vereinte Linke und das «Rassemblement National» auf eine Stufe zu stellen und beide als extrem zu geisseln, so dass man sich schon fragen durfte, ob dem Präsident wirklich daran gelegen ist, die extreme Rechte an der Regierung zu verhindern. Einem Emmanuel Macron, der geflissentlich zu vergessen scheint, dass er selbst zwei Mal nur zum Präsidenten gewählt wurde, weil die Wähler der Linken für ihn gestimmt hatten, nicht etwa für seine Ideen oder sein Programm, sondern in allererster Linie, um Marine Le Pen als Präsidentin zu verhindern.
Rückzug von Drittplatzierten
Konkret bedeutet die Wende im Macron-Lager dies: Am kommenden Sonntag werden, aufgrund der relativ hohen Wahlbeteiligung, sich in rund 300 der 577 Wahlkreise theoretisch nicht nur zwei, sondern drei Kandidaten gegenüberstehen. Um die Zahl der rechtsextremen Abgeordneten aber möglichst gering zu halten, ist es unerlässlich, dass der Drittplatzierte sich in jedem Wahlkreis zurückzieht und seine Wähler des ersten Durchgangs dazu aufruft, für die Kandidatin oder den Kandidaten der vereinten Linken oder der Konservativen von «Les Républicains» zu stimmen.
Die vier Parteien der Linken haben schon seit Wochen angekündigt, dass sie sich gegebenenfalls so verhalten werden, ihre Kandidaten bei der Stichwahl zurückziehen und ihre Wähler dazu aufrufen werden, am kommenden Sonntag für die konservativen und gegen die Le-Pen-Kandidaten zu stimmen.
Nun hat also, auch anders herum, die Macron-Partei diesen Schritt getan und dürfte zwischen 30 und 60 ihrer für den zweiten Wahlgang qualifizierten Kandidaten zurückziehen. De facto ist damit die schon totgesagte Republikanische Front gegen die extreme Rechte wieder auferstanden, auch wenn die Konservativen von «Les Républicains» bislang nicht mitziehen und ihre drittplatzierten Kandidaten nicht zurückziehen wollen.
Unregierbares Frankreich
Noch besteht also Hoffnung, die Schande zu vermeiden, dass ausgerechnet Frankreich, das Land der Aufklärung, der Revolution von 1789 und der Erklärung der Menschenrechte, von der extremen Rechten regiert wird – viel mehr aber nicht.
Denn nach dem entscheidenden zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag ist die Wahrscheinlichkeit am grössten, dass Frankreich in den kommenden Monaten schlicht und einfach unregierbar sein wird.
Aller Voraussicht nach wird keiner der drei politischen Blöcke in der Nationalversammlung eine nötige Mehrheit haben, und so etwas wie eine Koalitionskultur hat das auf Bipolarität angelegten Präsidialystem der 5. Republik seit fast acht Jahrzehnten schlicht nicht zugelassen.
Orientierungsloser Macron
Eine Periode der Instabilität und der allgemeinen Verunsicherung dürfte Frankreich bevorstehen und kaum jemand kann sich vorstellen, wie ein orientierungslos gewordener Emmanuel Macron die ihm verbleibenden drei Jahre als Staatspräsident über die Bühne bringen wird. Ein Präsident, den die Mehrheit der Franzosen schlicht nicht mehr sehen und hören will und der mit der unerklärlichen Parlamentsauflösung den letzten Kredit verspielt hat.
In den verbleibenden Tagen gilt es nun, wie mehrere Kommentatoren äusserten, das Schlimmste zu verhindern und dass der alarmistische Appell der Tageszeitung «Le Monde» gehört wird, die ihren letzten Leitartikel vor der gestrigen Wahl mit der Überschrift versehen hatte: «Bewahren wir unsere Demokratie». Nichts weniger als das.