Für Nachbarn, Freunde, aber vor allem die Angestellten gab es nur ein Thema – das nächtliche Treiben einer Bande, die während Wochen in den Dörfern von Alibagh Angst und Schrecken verbreitet hatte.
Niemand hatte sie zu Gesicht bekommen, aber die Beschreibungen glichen sich bis ins Detail: Sie tauchten mitten in der Nacht in einem Dorf, in einem Haus auf, eine Dutzend junger Männer, barfuss und nur mit Shorts bekleidet, die nackten Körper mit Kohle geschwärzt und mit Öl glänzend und glitschig eingerieben, sodass sie sich jedem Ergreifen entwinden und in der Nacht verschwinden konnten, dabei immer rückwärts laufend, und gelegentlich mit scharfen Laserlampen blendend.
Ein weisser ‚Tata Sumo‘ wartete irgendwo auf sie, und fuhr in rasender Geschwindigkeit weg, ins nächste Dorf oder Gehöft, um dann, bei Morgengrauen, in die Wälder zu verschwinden.
In Pen, einer Kleinstadt etwa zwanzig Kilometer im Landesinnern, habe die Schwarze Bande zwei Menschen umgebracht. Zum Beweis zeigten die Leute ein MMS-Foto auf ihren Handys, zwei blutüberströmte Leichen auf dem Boden ihrer Wohnung. Einige Tage nach diesem MMS sei ein weiteres Bild aufgetaucht, von einem Mann, das Gesicht von Blut und Schlagspuren unkenntlich gemacht, aber noch am Leben. Er sei der Einzige der Bande, der bisher gefasst worden sei.
Die schwarzen Gesellen kommen immer näher
Jeden Abend verbarrikadierten sich die Leute in ihren Häusern. Unsere Angestellten, das Ehepaar Amita und Viraj Wakhade, wagten es nicht mehr, in ihrem Haus zu schlafen und zogen für die Nacht in unseres nebenan. Als wir unsere Ankunft ankündigten, gingen sie wieder zurück, doch zuvor liessen sie neben der Holztür eine zweite mit einem Metallgitter anbringen.
Während Frauen und Kinder zusammen schliefen, schoben die Männer Nachtschicht und hielten sich über SMS mit Nachbarn wach. Gerüchte über das Auftauchen der schwarzen Gesellen in Nachbardörfern wurden sofort weitergegeben. Sie schienen zu beweisen, dass die Bande immer näher kam. Bald organisierten sich einzelne Dorfteile in Schutzgruppen und patrouillierten auf den Strassen.
Die Panik begann, kaum war der Abend angebrochen. Ein Freund, Zane Pedder, erzählte uns, eines Tages bereits um sieben einen Anruf erhalten zu haben, die Bande sei in Awas, unserem Dorf, in der Nähe des Lakshmi-Tempels, gesichtet worden. Er fuhr sofort hin. „Hunderte von Leuten, fast nur Männer, standen herum, die meisten mit einem Stock oder einer Sichel bewaffnet“. Von irgendwo sei Motorengeräusch gekommen. Sofort hätten sich Dutzende zu Fuss und auf Motorrädern in Bewegung gesetzt, entschlossen, die Gangster zu stellen. Nach einer halben Stunde kamen sie mit leeren Händen zurück. Einige behaupteten, ein weisses Fahrzeug gesichtet zu haben. Die Menge löste sich in Gruppen auf, gemeinsam liefen in ihr Quartier zurück, wiederum eine schlaflose Nacht vor sich.
So konnte es nicht weitergehen – diese ständige Angst, verschärft durch die heimtückische Unsichtbarkeit des Angreifers. Der Gegner musste ein Gesicht bekommen. Eines Tages sei plötzlich das Gerücht aufgetaucht, sagte Zane, ein Bus der Irrenanstalt in Thane – einer Stadt achtzig Kilometer weit weg – habe vor einigen Nächten in Alibagh dreissig Geistesgestörte ausgeladen, und sei weggefahren. Warum? „Weil sie in der Anstalt in Thane zu viele Insassen haben und sie auf diese Weise loswerden."
Eine Geistesgestörte mit zwei Handys
Und tatsächlich: „Ich habe es selber gesehen“ erklärte Viraj. „Als ich nach Alibagh fuhr, liefen plötzlich vier, fünf Irre auf der Landstrasse“. Es fiel ihm nicht schwer, sie zu beschreiben, denn auch ich begegne oft einer dieser bemitleidenswerten Gestalten, in Lumpen gehüllt und mit langem zottligen Haar, auf die Strasse gestellt durch ihre gefühllosen Familien und alleingelassen durch einen ebenso gefühlskalten Staat.
Es bedurfte nur des Multiplikators ‚Angst‘, um eine alltägliche Erscheinung von grosser Hilflosigkeit in eine Vielzahl von jungen behenden Einbrechern zu verwandeln.
Denn nun hatte die Angst ein Gesicht, und damit eine Zielscheibe. Auch wenn diese in nichts dem Profil der Schwarzen Bande glich, Hauptsache, es war ein ‚Fremdkörper‘. Es dauerte nicht lange, bis das Kollektiv ‚fündig‘ wurde, und auch gleich die Rechtfertigung für die Schuldzuweisung fand. Auf der Strasse zwischen Mandwa und Rehwas sei eine Frau aufgegriffen worden, lauteten die SMS eines Morgens; sie hätte zwei Handys auf sich getragen.
Eine Geistesgörte mit zwei Mobiltelefonen, das war für die irrlichternde Angst zuviel. Die Frau wurde angehalten, bedroht, schliesslich zusammengeschlagen und der Polizei übergeben. Als Zane von einem zweiten ‚Täter‘ hörte, fuhr er gleich zur Polizeiwache in Mandwa. Und tatsächlich: „Ein Mann sass im Vorhof der Station zusammengekauert auf dem Boden, blutüberströmt, die Kleider zerrissen. Er blinzelte angstvoll und verständnislos um sich. Die Leute standen dicht gedrängt um ihn, bereit wieder zuzuschlagen“. Sie erklärten, er habe zwei Handys auf sich getragen.
Das Opferlamm
Einige Tage später wurde in der Nähe des Dorfs Karlekin ein weiterer ‚Landstreicher‘ aufgebracht. Er wurde so schwer zugerichtet, dass er in der Gefängniszelle starb. Er war das Opferlamm, das nötig war, um dem Spuk ein Ende zu setzen. Endlich griff die Verwaltung in Alibagh ein, mobilisierte die Dorfvorsteher und einige prominente Bürger, und bat sie, die Leute aufzuklären. Einer von ihnen war unser Freund Rajiv Khote.
Rajiv hatte dem Treiben zuerst einfach zugeschaut, halb belustigt und besorgt. Nun, mit dem Tod eines offensichtlich unschuldigen Menschen, „musste ich handeln“. Er ging am Tag nach der Lynchjustiz in den Dorfkern seines Wohnorts Jerath, als, wie nun üblich vor Nachteinbruch, viele Einwohner auf die Strasse gingen. Er ergriff das Wort und appellierte an sie, zu sich zu kommen, einzuhalten in der gegenseitigen Angstmache.
„Ja, es gab einen Doppelmord in Pen“, habe er ihnen gesagt, „aber die Täter sind längst in Haft. Aber es war keine Schwarze Band‘ am Werk. Es gibt sie nicht. Es gibt keinen einzigen Einbruch oder Mord in unseren Dörfern. Und es gibt nicht einen einzigen Irren mehr auf unseren Strassen als immer schon. Das Einzige, was stimmt, ist dass ein unschuldiger Mensch sterben musste, nur wegen unserer Angst“.
So rasch wie sich die kollektive Psychose aufgeblasen hatte, genauso schnell platzte sie nun in sich zusammen. Für die einen wirkten die drei Wochen nach wie ein böser Traum. Für viele aber, etwa für unseren Mali Viraj, war es eine reale Gefahr gewesen. Sie hatte sich bloss verzogen. Die Angst war nur verdrängt und er war nicht umzustimmen: „Sie sind weitergezogen. Es wurde ihnen zu heiss hier“.