Der Tod des früheren Premierministers A. B. Vajpayee markiert nicht nur das Ende einer bemerkenswerten Karriere, sondern auch einer Hoffnung. Vajpayee war der einzige herausragende Politiker der hindu-nationalistischen Rechten, von dem man hoffen durfte, dass sich deren Ideen mit jenen einer liberalen Demokratie vermählen liessen. Sein Tod im 93.Lebensjahr markiert daher nicht nur das Ende einer reichen Politikerkarriere, sondern auch der Möglichkeit einer genuin indischen Ausformung der säkularen Demokratie westlichen Musters.
Natürlich war sein Partei- und Regierungsnachfolger Narendra Modi vor Tagen sofort an das Krankenbett des greisen Manns geeilt, und ebenso rasch trat er nun an dessen Todesbahre. Genauso wird sich Modi in den nächsten Tagen und Wochen den Mantel Vajpayees umhängen. Er wird sich als dessen Testamentsvollstrecker proklamieren, so wie er es seit langem mit Mahatma Gandhi tut, auch wenn er mit dessen Idealen von Gewaltlosigkeit und Gemeinschaftssinn wenig anzufangen weiss.
Pluralistisches Staatswesen
Als Vajpayee 1996 mit seinem ersten Koalitionsversuch bereits nach dreizehn Tagen das Handtuch werfen musste, erklärte er nach der erfolgreichen Misstrauensabstimmung im Parlament: „Regierungen kommen und gehen, Parteien entstehen und verschwinden wieder. Es ist die Nation, die weiterhin leuchten muss, und ihre Demokratie muss unsterblich bleiben!“
Es war eine Rede, die vom ganzen Halbrund der Parlamentskammer Applaus bekam wurde. Sie war nicht nur ein Zeugnis von Vajpayees rhetorischer Brillanz und poetischen Ausdruckskraft. Sie erfolgte auch in einem Saal, in dem er während Jahrzehnten als Abgeordneter brilliert hatte, nicht zuletzt weil ihm als Lehrer und als Lyriker das Give and Take der parlamentarischen Debattenkultur so sehr behagt hatte.
Es war das grosse Verdienst Vajpayees gewesen, in einem zweiten Anlauf 1998 mit einer breiten Koalition seine Indische Volkspartei BJP auf das Mantra eines pluralistischen Staatswesens einzuschwören. Doch als er sich 2004 der Wiederwahl stellte, verlor er auch deshalb, weil sich der hindu-nationalistische Kaderverband RSS im Wahlkampf nur halbherzig für ihn eingesetzt hatte.
Unbewältigter Zielkonflikt
Vajpayee stand damals bereits im achtzigsten Lebensjahr. Die Niederlage war der Beginn des Endes seiner langen Karriere. Sie machte den Weg frei für einen anderen RSS-Kämpen, Narendra Modi, und für dessen Idee einer Demokratie, in der der Begriff „pluralistisch“ immer zügiger durch „majoritär“ ersetzt wird.
Während seiner erfolgreichen Regierungszeit nutzte Vajpayee geschickt die Dialog- und Kompromissfähigkeit des grossen Parteienspektrums in Parlament und Regierung. Es war seine Tragik, dass ihm etwas Ähnliches mit seiner eigenen Partei und dem RSS nicht gelang. Vajpayee war zeit seines Lebens RSS-Mitglied, aber er war wohl zu wenig Streithals und Stratege, um dessen Ideologie eines „reinen“ Hindutva-Staats in die Akzeptanz einer multipolaren Gesellschaft zu überführen.
Dieser unbewältigte Zielkonflikt zwang Vajpayee zu einem ständigen Lavieren zwischen dem Diktat der Realpolitik und jenem der reinen Lehre. Nie wurde dies so augenscheinlich wie im Frühjahr von 2001, mitten in Vajpayees Amtszeit. In seinem Heimatstaat Gujerat duldete Narendra Modi drei Monate lang antimuslimische Pogrome und schien mit seiner Rhetorik die Flammen noch zu nähren.
Atomwaffen
Vajpayee appellierte an Modis Raj Dharma – die Pflicht des Herrschers, sich für das Wohl aller einzusetzen. Dies wurde als Aufforderung zum Rücktritt Modis als Chefminister gelesen – nicht aber von diesem selber. Als Vajpayee Gujerat besuchte, inszenierte Modi mehrere Auftritte, in denen er sich neben Vajpayee stellte. Die Bilder sollten Einigkeit suggerieren; derweil stellte Modis Regie sicher, dass Vajpayee nicht zu Wort kam und die vorgespiegelte Verbrüderung nicht als PR-Blase platzen liess. Kurz darauf, bei einem Parteikongress in Bangalore, gab Vajpayee klein bei und schwenkte auf die Parteilinie ein: „Muslime, Ihr seid vom Goodwill der Hindus abhängig!“, lautete nun auch Vajpayees Tenor. „Nehmt Euch also in Acht!“
Es konnte nicht anders sein, als dass ähnliche Widersprüche auch in anderen Politikbereichen sichtbar wurden. Im Mai 1998, nur einige Monate nach seinem Amtsantritt, zündete Indien unter dem Boden der Wüste von Rajasthan fünf atomare Sprengköpfe, auf die Pakistan eine Woche später mit deren drei antwortete. Die BJP jubilierte: „Eine Explosion des Hindu-Stolzes“, lautete ein Slogan.
Doch es war klassische Vajpayee-Politik, dass er ein halbes Jahr später eine Bus-Route zwischen Amritsar und Lahore eröffnete. Als erster indischer Premier fuhr er über die schwerbewachte Landesgrenze und verabschiedete mit seinem Amtskollegen Nawaz Sharif die Lahore-Deklaration, die beide Länder auf nukleare Abrüstung einschwören sollte.
Der Kargil-Krieg
Ich stand an jenem 19.Februar 1999 ebenfalls in Wagah am Strassenrand und sah den Bus mit seinen indischen und pakistanischen Fahrgästen vorbeifahren. Später am Abend machte sich in Lahore Unruhe breit: Die pakistanischen Generäle, so unsere pakistanischen Kollegen, seien wütend auf Sharif, dass er ihnen die Kontrolle über die bilateralen Beziehungen entwinden wollte; sie hätten sich geweigert, am Bankett im historischen Lahore Fort teilzunehmen.
Doch dann drohte Sharif mit einem öffentlichen Showdown. Die Generäle gaben klein bei und kamen, allerdings nicht – wie vom Protokoll vorgesehen – in Zivilkleidern, sondern im militärischen Vollschmiss. Vier Monate später nahmen sie Rache: Ohne Wissen Sharifs besetzten General Musharrafs Fallschirmjäger (in lokaler Tracht) Grenzstellungen auf indischem Territorium und lösten den Kargil-Krieg aus.
Dass daraus kein Flächenbrand wurde, war wiederum Vajpayees staatsmännischem Verhalten zu verdanken. Er beschränkte die militärische Reaktion auf die Rückeroberung der Grenzstellungen und vermied in geheimer Absprache mit Sharif jede Eskalation. Dieser musste seinen Preis dafür bezahlen: Drei Monate später, Anfang Oktober 1999, verübte Musharraf einen Militärputsch und schickte Sharif ins Exil nach Saudiarabien.
Demagogie
Doch auch Vajpayee hatte seinen Preis zu bezahlen. Im Dezember dieses ereignisreichen Jahres entführten Mitglieder der pakistanischen Harkat al-Mujaheddin eine Maschine der Indian Airlines mit 176 Passagieren. Der Preis: Die Auslieferung von zwei Terroristen aus indischen Gefängnissen, eigenhändig übergeben vom indischen Aussenminister auf dem Flugfeld im afghanischen Kandahar.
Für Vajpayee war das Nachgeben gegenüber der Terrordrohung Ausdruck von Insaanyat – Menschlichkeit, einem Lieblingswort in seinem reichen Wortschatz. Nicht alle sahen es so, am wenigsten die Hardliner in seiner eigenen Hindutva-Familie. Für sie war es eine Kapitulation.
Und für Narendra Modi war es eine willkommene Plattform, als er ein Jahr später zum Chefminister von Gujerat ernannt wurde. Dreizehn Jahre später war es soweit, dass er das Erbe des grossen Redners Vajpayee antreten konnte – mit einer Rhetorik, die Vajpayees Stil nie gewesen war: Demagogie.