Frankreichs Wahlmarathon ging an diesem Sonntag in die dritte von vier Runden. Nach Macrons Wiederwahl zum Präsidenten müssen nun 577 Sitze der Nationalversammlung besetzt werden. Der erste Durchgang der Parlamentswahlen am heutigen Sonntag wird jedoch nur beschränkt Auskunft geben über das Endergebnis am 19. Juni.
Mehr als zwei Monate braucht das französische Wahlsystem in diesem Jahr 2022, bevor Klarheit herrschen wird, wie wieder einigermassen normal regiert werden kann.
Und dies obwohl in jenem französischen System Koalitionsverhandlungen oder gar Koalitionsverträge absolute Fremdwörter sind. Nein, es geht nicht um Verhandlungen nach den Wahlen, sondern nur um die Wahlen und ihr System selbst: zwei Mal zwei Wahlgänge, erst um einen Präsidenten oder eine Präsidentin zu küren, und anschliessend, diesmal fast zwei Monate später, zwei weitere Wahlgänge, um das Parlament zu besetzen, das in Frankreich im Grunde ohnehin kaum etwas zu sagen und vor dem sich der Präsident nicht zu verantworten hat.
Zur Erinnerung
Am 10. April ging es im ersten Wahlgang um das Präsidentenamt. Am Ende kam dieselbe Konstellation zustande wie schon vor fünf Jahren: Macron gegen Le Pen.
14 Tage später wusste man dann, der bisherige Hausherr im Élyséepalast wird auch der künftige sein, selbst wenn Macron im Vergleich zu 2017 mit 58% in der Stichwahl diesmal satte acht Prozent weniger an Stimmen einfangen konnte.
Es war ein Wahlsieg ohne grosse Begeisterung, ganz überwiegend dominiert von der Erleichterung, dass die extreme Rechte und Marine Le Pen mit im Grunde gigantischen fast 42% es auch beim dritten Versuch nicht in den Élysée geschafft hatten.
Spiel auf Zeit
Nach seiner Wiederwahl tauchte Emmanuel Macron erst mal mehr oder weniger ab und liess so viel Zeit wie möglich verstreichen, bevor er am 16. Mai, erst zum zweiten Mal in der Geschichte der 5. Republik, mit Élisabeth Borne eine Frau zur Regierungschefin ernannte, eine Managerin und keine eingefleischte Politikerin.
Danach vergingen Tage und Tage, bis auch eine Regierung vorgestellt wurde, welche nach diesen Parlamentswahlen und nur wenigen Wochen eventuell schon wieder umgebildet werden muss. Denn der Witz ist: Fast 20 Minister oder Ministerinnen kandidieren bei diesen Wahlen. Und da gilt in diesem Land die goldene Regel: Wer verliert, verliert auch sein Ministeramt und darf wieder gehen.
Macron, der alte und neue Präsident, funktionierte in den letzten Wochen ganz eindeutig nach dem Motto: Die wichtigste Wahl hab’ ich gewonnen, aus den Untiefen des Parlamentswahlkampfs in den 577 Wahlkreisen halte ich mich besser raus, und im Übrigen äussere ich mich so selten wie nur irgend möglich. Er zelebrierte dieses Nicht-Engagement, so als handle es sich um keine landesweite Wahl, derart, dass sein Umfeld und seine Partei immer unruhiger wurden und sich der Präsident dann doch zu der einen oder anderen Visite im Land überreden liess. Diese Auftritte stanken allerdings allesamt derartig nach einem reinen Kommunikationsvorhaben, dass man sich fragen darf, was sie gebracht haben.
Als gäbe es keine Wahlkampfthemen
Dieser Parlamentswahlkampf war bisher blutleer und müde wie keiner zuvor. Dabei lagen gewichtige Themen regelrecht auf der Strasse.
Nur zwei Beispiele.
Frankreichs Krankenhäuser gehen auf dem Zahnfleisch, das Personal, ob Ärzte, Krankenschwestern oder Pfleger, laufen massenweise davon. In manchen Regionen sind bis zu 30% der Krankenhausbetten wegen Personalmangel nicht verfügbar.
Nicht besser die Situation im Schulwesen: Jahr für Jahr melden sich weniger Kandidaten bei den Wettbewerben, die ein angehender französischer Lehrer über sich ergehen lassen muss. Vor allem Mathematiker wollen nicht mehr Mathematiklehrer werden.
Mit Blick auf den kommenden September haben die Schulbehörden in manchen Regionen jüngst doch tatsächlich «Speed-Datings» organisiert, wo jeder, der ein minimales Unidiplom vorweisen konnte, zumindest eine Chance hatte, auch ohne jede pädagogische Ausbildung, einen Zeitvertrag als Lehrer zu bekommen.
Im Parlamentswahlkampf spielten diese und andere wichtige Themen allerdings so gut wie keine Rolle. Nicht nur der Präsident, sondern auch die ganze Ministerriege hielt sich ausgesprochen bedeckt, so als handle es sich um keine landesweit wichtigen Themen und als seien diese Parlamentswahlen im Grunde 577 Lokalwahlen. Was, nebenbei bemerkt, auch einiges über das geringe Gewicht der französischen Nationalversammlung als solcher aussagt.
Mélenchon
Während also das Macron-Lager eher den Kopf in den Sand steckte, erlebte der Chef der radikalen und gelegentlich auch reichlich populistischen Linken, Jean-Luc Mélenchon, Vorsitzender der Linkspartei «La France Insoumise», eine Art zweiten Frühling.
Zweifelsohne ist der 70-jährige Ex-Trotzkist, Ex-Sozialist und Chef der Linkspartei (LFI) jetzt schon der gewiefte Gewinner des französischen Wahlmarathons Jahrgang 2022.
22% der Stimmen erzielte er im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen und schrammte damit nur um 1% am Einzug in die Stichwahl vorbei. Ganz nebenbei hatte er es fertiggebracht, dass die Wähler in den Vororten der französischen Grossstädte wieder stärker an die Urnen gingen und massiv für ihn votierten.
Mit diesem Ergebnis im Rücken und dem katastrophalen Abschneiden der grünen, kommunistischen und sozialistischen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen hat er es dann geschafft, innerhalb von 14 Tagen zumindest eine Scheineinheit der Linken zustande zu bringen, etwas, das dieser Linken in den letzten fünf Jahren und vor allem im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen nicht gelungen war.
Sein zweiter Coup
Und nachdem er dies zustande gebracht hatte, landete Mélenchon, der mit allen Wassern gewaschene alte Kämpe, den nächsten perfekten Coup der politischen Kommunikation, indem er seine potentiellen Wähler dazu aufrief, ihn zum Premierminister zu wählen.
Mit anderen Worten: Dem gerade aus der Taufe gehobenen Wahlbündnis der Linken unter dem unsäglichen Kürzel NUPES – ausgesprochen Nüpp – (Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale) eine Mehrheit im Parlament zu verschaffen und den Präsidenten so zu einer Kohabitation zu verdonnern, wie es sie unter den Präsidenten Mitterrand und Chirac bereits schon einmal gegeben hatte.
Auch wenn von Anfang an klar war, dass dies nicht sehr realistisch ist, beherrschten Mélenchon und seine Mitstreiter seitdem ganz eindeutig diesen Parlamentswahlkampf und sind seitdem die Oppositionskraft Nummer eins. Den Kandidaten dieser Linken werden zwischen 26 und 28% der Stimmen vorhergesagt, womit sie ungefähr gleichauf mit denen der Macron-Partei liegen würden. Für Marine Le Pens «Rassemblement National» werden 20% der Stimmen prophezeit, wobei diese Zahlen zwar ein Kräfteverhältnis wiedergeben, aber noch lange nichts über die endgültige Zusammensetzung des künftigen Parlaments aussagen, die erst in einer Woche entschieden wird.
Welche Mehrheit für Macron?
Eine Frage, die man heute Abend nur schwer wird beantworten können, zu kompliziert und unterschiedlich sind die Konstellationen in den 577 Wahlkreisen. Man mag es daran ablesen, dass die Meinungsforschungsinstitute für den zweiten und entscheidenden Wahlgang am 19. Juni nur Vorhersagen mit enormen Spannbreiten wagen.
289 Sitze braucht es, um die Mehrheit in der Nationalversammlung zu haben. Klar scheint jetzt schon: Die Macron-Partei, inzwischen von «La République en Marche» in «Renaissance» umgetauft, wird es alleine nicht schaffen. Sie braucht ihre Partner, die Zentrumspartei «Modem» von François Bayrou, mehrfacher Ex-Minister und dreifacher Präsidentschaftskandidat, und auch die künftigen Abgeordneten der Bewegung «Horizon» von Macrons ehemaligem Premierminister Édouard Phillipe.
Doch auch so liegen die Prognosen für das Präsidentenlager nur bei 260 bis 310 Abgeordnetensitzen, was heisst, dass Emmanuel Macron eventuell nur über eine relative Mehrheit verfügen könnte und von Fall zu Fall die Stimmen der klassischen Konservativen von «Les Républicains» benötigen könnte, denen heute Abend allerdings nur noch 11% der Stimmen vorhergesagt werden und die am nächsten Sonntag die Hälfte ihrer bisher 100 Mandate verlieren könnten.
Dieselbe Spannbreite findet man bei den Prognosen auf der anderen Seite: Das linke Wahlbündnis darf angeblich minimal auf 150 und maximal auf 210 Abgeordnete hoffen.
Womit das Getöns von Mélenchon dann auch verhallen dürfte, wonach er Premierminister werden und den Präsidenten zu einer «Kohabitation» verdonnern würde, in welcher er, Mélenchon, das Sagen habe und die politischen Weichen stellt.
Mélenchon wird am Ende keine Mehrheit haben und schon gar nicht Premierminister werden und die Sorgen, ja zum Teil das Geschrei, seine Abgeordneten und die Vertreter der drei anderen Parteien könnten für Blockaden sorgen, ist Unsinn. Gewiss, es wird lauter werden in der französischen Nationalversammlung am Seineufer, die Linke wird mehr Redezeit und mehr Vorsitze in Ausschüssen bekommen, doch damit hat es sich dann.
Klar ist jedoch auch: Mélenchons strategisch-politischer Coup des Wahlbündnisses wird dazu führen, dass im französischen Parlament künftig rund drei Mal so viele Abgeordnete sitzen werden, die im weitesten Sinn der Linken zuzuordnen sind als in den vergangenen fünf Jahren, als es gerade noch 60 waren.
Bündnis?
Und doch sollte man sich hüten, dem Bündnis aus der Mélenchon-Partei LFI, den Grünen, den Kommunisten und den Sozialisten allzu grosse Bedeutung beizumessen. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass dieses Bündnis nach den Wahlen keinen Bestand mehr haben wird. Jede der vier Parteien wird, sofern sie denn mindestens 15 Abgeordnete in die Nationalversammlung bringt, ihre eigene Fraktion gründen. Doch danach?
Auch wenn es formal ein 650-Punkte-Programm gibt, das alle unterschrieben haben, ist trotzdem sicher, dass fundamentale inhaltliche Unterschiede weiter bestehen werden. Völlig klar ist dabei: Die verbliebenen Sozialisten und die Grünen haben vor allem mit Mélenchons Anti-Europa-Haltung grosse Probleme und auch der von Mélenchon gewünschte Nato-Austritt Frankreichs oder das Thema Atomkraft sind zwei weitere unter vielen anderen Zankäpfeln. NUPES ist bisher alles andere als eine echte Koalition, sondern ein Zweckbündnis und doch könnte diese «Neue ökologische und soziale Volksunion» mittelfristig möglicherweise der Ausgangspunkt für ein Wiedererstarken der Linken sein. Aber eben nur mittelfristig.
Denn nüchtern betrachtet muss man am heutigen Wahltag festhalten, dass die prognostizierten 26 bis 28% für NUPES nicht mehr sind, als die zersplitterte Linke bei den Präsidentschaftswahlen vor zwei Monaten erzielt hat, nämlich weniger als 30%! Die restlichen Stimmen verteilen sich in diesem Land auf Mitte-Rechts, Rechts und Extrem-Rechts.
A propos Stimmen: Die Vorhersagen über die Wahlbeteiligung sind katastrophaler denn je: weniger als 50%.