Eigentlich besteht kein Grund zur Beunruhigung. Die Schweiz ist und bleibt im internationalen Vergleich ein relativ sicheres Land. Die Kriminalität hat in den vergangen Jahren kaum zugenommen, auch wenn Privatfernsehen, Boulevardblatt und Gratiszeitungen mit ihren täglichen Geschichten über kleinere und grössere Verbrechen einen ganz anderen Eindruck vermitteln.
Glaubt man den in Politik und Medien vorherrschenden Stimmen braucht die Schweiz trotzdem dringend ein neues schärferes Strafrecht. 80 Vorstösse sind im vergangenen Jahr eingereicht und vom Parlament diskutiert worden. Politiker aus allen Lagern forderten härtere Sanktionen und weniger Bewährungsstrafen, ja selbst eine Rückkehr zum alten Zuchthaus wurde verlangt. Sogar einer der Grundpfeiler des modernen Strafrechtes - keine Strafe ohne Schuld – sollte fallen. Auch Schuldunfähige – Unzurechnungsfähige, wie es früher hiess – müssten ohne Rücksicht bestraft werden, verlangte ein Vorstoss. Zum Glück vergeblich.
Zwei Vorlagen mit härteren Strafen
Diese Vorstösse und der Ruf nach härteren Strafen haben jetzt Folgen. Justizministerin Widmer-Schlumpf hat im Sommer gleich zwei Vorlagen in die Vernehmlassung geschickt. Die erste will die mit dem seit Anfang 2007 geltenden neuen Strafrecht eingeführte Reformen wieder rückgängig machen. Die zweite setzt bei den Strafrahmen bestimmter Delikte an und will den Richtern höhere Minimal- oder höhere Maximalstrafen vorschreiben. Das hat unter Strafrechtlern heftige Reaktionen ausgelöst. Sie können nicht verstehen, dass Parlament und Bundesrat nach wenigen Jahren die von ihnen beschlossene Reform wieder rückgängig machen wollen.
Der emeritierte Freiburger Strafrechtprofessor Frank Riklin hat an einer Fachtagung der Caritas zum Thema „Wieviel Strafe braucht der Mensch“ davon gesprochen, dass offenbar eine Art Gegenreformation oder Restauration im Gang sei. Und er zeigte sich beunruhigt „über die allzu simple, von Alltagstheorien und Fakten Ignoranz geprägte Art, wie heute in der medialen Öffentlichkeit der Ist- und Sollzustand des Strafwesens diskutiert wird“.
Zurück zur kurzen Freiheitsstrafe
Der Strafrechtler erinnert an die Situation vor der Reform. Die Schweiz sei damals „Weltmeister“ in der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen gewesen. Jährlich wurden rund 60 000 Freiheitsstrafen verhängt, drei Viertel davon bedingt. 94 Prozent der Gefängnisstrafen lagen unter der Schwelle von 6 Monaten, 68 Prozent dauerten nicht einmal einen Monat. Diese teuren Kurz- und Kürzestaufenthalte im Gefängnis wollte das die Strafreform durch eine nach Tagessätzen und entsprechend dem Einkommen bemessene Geldstrafe sowie die gemeinnützige Arbeit ersetzen. Doch das ist Geschichte. Jetzt soll die kurze Freiheitsstrafe wieder zum Regelfall werden.
Bundesrichter Hans Wiprächtiger, ein ausgewiesener Kenner des Strafrechts, kann das nicht verstehen: „Es ist verfehlt und trägt nicht zur Rechtssicherheit bei, wenn nach wenigen Jahren eine solche Revision wieder rückgängig gemacht wird“, denn so könne sich eine in einem Rechtssystem notwendige Praxis gar nie richtig entwickeln.
Nur noch unbedingte Geldstrafen
Im Visier haben die Gegenreformer vor allem die bedingte Geldstrafe und die bedingte gemeinnützige Arbeit. Diese schreckten niemanden ab, glaubt auch die Justizministerin. Es brauche wieder „Strafen, die wirklich Strafen sind und auch als Strafen empfunden werden.“ So hat Eveline Widmer-Schlumpf ihr Vorhaben begründet. Vergessen geht dabei, dass ein zu einer bedingten Geldstrafe Verurteilte nicht einfach ungeschoren bleibt. In den meisten Fällen kommt zur bedingten Geldstrafe noch eine unbedingte Busse dazu. Zudem muss der Verurteilte für Gerichts- und Anwaltskosen aufkommen und bei Verkehrsdelikten zumeist seinen Führerschein abgeben. Auch die im Falle der Nichtbewährung drohende Geldstrafe ist nicht einfach nichts. Sie kann den Täter ohne weiteres mehrere Monatsgehälter kosten.
Bedingte Geldstrafen sind entgegen dem, was einige Zeitungen bei deren Einführung behauptet haben, keine Schweizer Erfindung und kein „Unikum in Europa“. Es gibt sie auch in Österreich, Frankreich, Belgien und den skandinavischen Ländern. Wer bedingte Geldstrafen ablehnt, muss sich fragen lassen, weshalb es sich bei Freiheitsstrafen anders verhalten soll. Bei einer bedingten Freiheitsstrafe muss der Täter ja auch nicht ins Gefängnis. „Letztlich wird sich dieselbe Art von Tätern nicht durch die bedingte Geldstrafe beeindrucken lassen, die auch den „Warnschuss“ einer bedingten Freiheitsstrafe ignoriert“, schreibt dazu der Strafrechtler Sandro Cimicella in seiner Untersuchung zur Problematik der bedingten Geldstrafe.
Ein genereller Verzicht auf bedingte Strafen wäre jedoch fatal, davon gehen offenbar selbst die Gegenreformer aus. Schliesslich ist der bedingte Strafvollzug „eines der besten Instrumente die unser Strafrecht kennt“, wie Bundesrichter Wiprächtiger sagt. Es hat sich gezeigt, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle die blosse Warnstrafe genügt, um weitere Taten zu verhindern.
Der unausrottbare Irrglaube
Wer weniger bedingte Strafen oder massiv längere Strafen bei Delikten wie der fahrlässigen und der vorsätzlichen Körperverletzung fordert, müsste zumindest sagen, was er damit erreichen will. Geht es ihm allein um Vergeltung und Rache, oder glaubt er wirklich daran, mehr Sicherheit zu schaffen? Es gibt keine kriminologische Untersuchung, auf die sich die Hardliner und Gegenreformer stützen könnten. Nach allem was man weiss, spielt die Schwere der drohenden Strafe für die Rückfallwahrscheinlichkeit eines Verurteilten nur eine untergeordnete Rolle. Trotzdem ist bei den Politikern der Irrglaube unausrottbar, harte Strafen würden grundsätzlich mehr bringen als mildere Sanktionen.
Was jugendliche Täter am meisten fürchten
Dass Strafen nicht das allein Entscheidende bei der Kriminalitätsprävention sind, bestätigt auch der Tübinger Kriminologe Hans-Jürgen Kerner. Aus den einschlägigen Studien zur Jugendkriminalität lässt sich laut Kerner folgender Schluss ziehen: Am meisten fürchten die Jugendlichen nicht die Schwere einer möglichen strafrechtlichen Sanktion, sondern die möglichen Reaktionen im engeren Umfeld, bei der Familie oder im Freundeskreis. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Tat entdeckt wird, ist für den potentiellen Täter weit wichtiger als die allenfalls zu erwartende Schwere der Bestrafung. Kerner leitet daraus die folgende Generalthese ab: „Es ist vergleichsweise wichtig, dass etwas geschieht. Und es ist vergleichsweise unwichtig, wie das geschieht.“
Interessante Zahlen zur Rückfälligkeit hat an der Fachtagung in Zürich auch die Französin Annie Kensey von der Direction pénitentiaire in Paris vorgestellt. Entscheidend dafür, ob ein Straftäter rückfällig wird, ist vor allem die Vorgeschichte und Lebenssituation des Delinquenten. Je jünger ein Straftäter ist, desto höher die Rückfallquote. Hat er einen Beruf, so hat er eine drei Mal geringere Rückfallquote als ein Täter ohne Beruf. Ein Beispiel dafür: Bei der vorsätzlichen Körperverletzung kommt es total in 41 Prozent aller Fälle zu einem Rückfall innerhalb von vier Jahren nach der Strafverbüssung. Geht es dagegen nur um vorbestrafte, unter 30 Jahre alte Täter ohne Beruf liegt die Rückfallquote bei nicht weniger als 81 Prozent. Bei einem über 30 Jahre alte Täter mit Beruf und ohne Vorstrafen tendiert die Rückfallquote umgekehrt gegen 0. Deshalb mache man es sich zu einfach, warnte Kensey, wenn man bei der Bekämpfung der Rückfälle immer nur auf Strafen setze und dabei den Lebenslauf und die ganze Geschichte des Täters vernachlässige.
Das Teuerste vom Teuren
Härtere Strafen mögen dem Zeitgeist entsprechen und ihren Promotoren Stimmengewinne bei den Wahlen versprechen. Doch sie bringen nicht automatisch mehr Sicherheit und vermindern die Zahl der Rückfälle nicht. Fest steht zudem: Sie kosten viel Geld. Denn Gefängnis ist „das Teuerste vom Teuren“, wie Frank Riklin es formuliert. Wer mehr für die Sicherheit tun will, würde dieses Geld besser für zusätzliche Polizeikräfte aufwenden oder in Therapien im Massnahmevollzug investieren. Hier fehlt es an Geld und hier wäre mit den gleichen Mitteln wohl mehr zu erreichen.