„Mullah Bradley“, so bezeichnete die IS-Publikation al-Nabah vor einer Woche die Taliban nach ihrer Einnahme von Kabul. Ausgedeutscht heisst dies, die „Neuen Taliban“ seien nichts als amerikanisierte Mullahs. Hinter dem beissenden Spott sticht die Entschlossenheit heraus, dass der Jihad gegen den amerikanischen „Satan“ nun auch jene ins Fadenkreuz nimmt, die sich mit ihnen an den Verhandlungstisch gesetzt haben.
Der Kriegserklärung folgte eine Woche später eine erste Salve, als die Explosionen am Donnerstag den Flughafen von Kabul erschütterten – und mit ihm auch die Weltöffentlichkeit. Zu den Opfern gehörten nicht nur afghanische Zivilisten und amerikanische Soldaten, sondern offenbar auch Taliban-Wachen.
Auch die Taliban-Führung hatte sich bereits darauf eingestellt. Die New York Times zitierte Stimmen, wonach in den Tagen zuvor Taliban-Kämpfer mehrere IS-Leute erschossen hätten, als diese in den Perimeter des Flughafens einzudringen versuchten.
Pakistanische Hexenküche
Der IS-K, der sich zum Attentat bekannte, verweist mit seinem „K“-Kürzel zwar auf die Region Khorasan im Norden Irans, in der der wiedererstandene „Islamische Staat“ ein Kalifat errichten will. Und er schliesst neben zentralasiatischen Staaten auch Afghanistan ein – und Pakistan. Die Herkunft dieses neuen Zweigs im IS-Netzwerk stammt denn auch aus Pakistan. Er ist ein weiteres Produkt aus der Hexenküche, in der Pakistans „Staat im Staat“ – die Armee und ihr Geheindienst ISI – Terrorgruppen grossziehen und sie als Bestandteil ihrer Politik einsetzen, sei es in Kaschmir oder Afghanistan.
Bereits die Taliban hätten wohl nie diese Durchschlagskraft entwickelt, wenn der ISI sie nicht bewaffnet hätte, mit Rekruten aus Madrassen versorgt und mit Trainingscamps und mit Rückzugszonen ausgestattet hätte. Selbst als sich vor einigen Jahren radikale Elemente innerhalb der Taliban von ihrer Mutterorganisation abspalteten und als „pakistanische Taliban“ in Erscheinung traten („Tehrik Taliban Pakistan“ oder TTP), genossen diese zunächst den Schutz des ISI.
Doch es kam, wie es bei solchen Doppelspielen immer kommt: Die TTP radikalisierte sich in zum Teil blutigen internen Auseinandersetzungen weiter und wandte sich schliesslich gegen ihren eigenen Ziehvater. Als die pakistanische Armee vor vier Jahren mit einer regelrechten Militärmacht (einschliesslich Luftangriffen) in der Nordwestregion gegen sie vorging, zogen sich die TTP-Kämpfer in die afghanische Kunar-Provinz zurück. Dort knüpften sie Kontakte mit dem IS, der sie mit einem neuen Namen („IS-K“) ausstattete; und wohl auch mit versprengten IS-Kämpfern aus den zentralasiatischen Staaten, darunter solchen, die auch an der Seite der Taliban kämpften. Der erste Kampfplatz der Jihadis ist Afghanistan – ohne zu vergessen, dass Pakistan auch in den Definitionsbereich von „K“ fällt.
„Weltkrieg“
Eine kürzliche Studie der UNAMA stellt fest, dass der IS-K allein in den vier ersten Monaten von 2021 77 Attentate verübt hat. In ihrer Grausamkeit stechen dabei zwei im Mai und Juni verübte Anschläge heraus. Der erste war die Detonation einer Auto-Bombe vor einer Mädchenschule in einem Quartier der schiitischen Hazaras in West-Kabul; 85 Menschen wurden dabei getötet und über dreihundert verletzt. Im Juni war es die Erschiessung von zehn Mitarbeitern des HALO Trust, einer britischen NGO, die sich in der Entschärfung von Landminen engagiert.
Nach dem Attentat am Kabuler Flughafen erfährt nun auch eine breitere Öffentlichkeit, dass die Taliban in den letzten Jahren nicht nur gegen die Regierung von Ashraf Ghani (und die Nato) gekämpft haben. Die ideologische Herausforderung des IS – wonach es beim Jihad um einen „Weltkrieg“ geht und nicht nur um die Wiederherstellung eines afghanischen „Emirats“ – hat sie gezwungen, sich die noch radikaleren Gegner vom Leib zu halten.
Allerdings rekrutierten sich auch die afghanischen Taliban nie bloss aus den verwahrlosten Jugendlichen, die in pakistanischen Flüchtlingslagern gross wurden und von radikalen Mullahs in Madrassen auf Koranverse und den Gebrauch von Waffen getrimmt wurden. Auch zu ihnen stiessen im Lauf der letzten zwanzig Jahre islamistische Gruppierungen, die ihre Feuertaufe in den Kriegen in Irak, Syrien und dem Kaukasus erhalten hatten. In einem kürzlichen Bericht bezifferte die Uno deren Zahl auf 8000 bis 10000 Kämpfer.
Abrechnung mit den „moderaten“ Taliban
Unter ihnen warten, so meinte etwa der afghanische Terrorismusforscher Afzal Ashraf gegenüber der Deutschen Welle, radikale Elemente auf ihre Chance, mit den „moderaten“ Taliban abzurechnen, wenn sich diese einmal in Kabul etabliert haben. Mit den IS-K-Kadern würde eine Taliban-Regierung wohl militärisch fertigwerden, meint Ashraf. Es seien die fanatisierten Jihadisten in ihren Reihen, die mittelfristig einen potentiell gefährlicheren Unruheherd darstellen.
Als Drehscheibe in diesem Teufelskreis schält sich immer stärker der Haqqani-Clan aus der Region rund um den Khyber-Pass heraus, mit einem Bein in Pakistan und dem andern in Afghanistan. Grossgeworden im Geschäft mit Waffen, Drogen und Menschenhandel, verbindet er religiösen Fanatismus mit der Kaltblütigkeit eines Drogenkartells und der Fähigkeit zu politischer Vernetzung.
Das Haqqani-Netzwerk wird schon lange als verlängerter Arm des pakistanischen ISI angesehen. Die Cousins pflegen aber auch, unter dem Vorwand der Unterwanderung, Verbindungen mit dem IS-Untergrund (wie der früheren TTP), obwohl sich dieser offen gegen das pakistanische Militär-Establishment stellt. Den Haqqanis wird nachgesagt, dass sie auch bei den Attentaten des IS-K (wie jenem in der Mädchenschule in Kabul) logistische Helferdienste geleistet haben. Für alle afghanischen Regierungen waren es die Haqqanis, die den eigentlichen Feind Afghanistans darstellten, denn in ihnen verband sich Pakistans Grossmachtsucht mit islamistischem Terror.
Terroristen schützen vor Terroristen
Gleichzeitig sitzen sie aber auch im dreiköpfigen Obersten Militärrat der Taliban. Angeblich sind es die Haqqanis, denen die Taliban-Führung vor einer Woche die Sicherheitskontrolle über die Hauptstadt Kabul übertragen hat, einschliesslich des Flughafens. So würde sich auch dieser Teufelskreis schliessen – die Verteidiger werden zu Gehilfen der Angreifer. Terroristen schützen vor Terroristen. Den Afghanen steht ein neuer Bürgerkrieg bevor – und die westlichen Beschützer suchen überstürzt das Weite.