Präsident Macrons Rentenreform und die Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre lässt Frankreich nicht zur Ruhe kommen. Erneut waren am letzten Dienstag bei 250 Demonstrationen im ganzen Land weit über eine Million Menschen auf den Strassen, um gegen die Reform zu demonstrieren. Die Fronten sind verhärtet, ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht.
Am Montagnachmittag haben auf parlamentarischer Ebene die zwei entscheidenden Wochen im Streit um Präsident Macrons Rentenreform begonnen mit dem bereits reichlich turbulenten Auftakt zu einer zweiwöchigen Debatte in der Pariser Nationalversammlung, in welcher das Lager des Präsidenten seit den letzten Parlamentswahlen bekanntlich nur noch über eine relative Mehrheit verfügt.
Sorge um die parlamentarische Mehrheit
Die vier Oppositionsparteien von links – unter dem Kürzel NUPES mehr oder weniger vereint – und Marine Le Pens extrem rechtes «Rassemblement National» wetzen in einer schon seit Tagen aufgeheizten Stimmung die Messer gegen die Regierung, während die Präsidentenpartei «Renaissance» gemeinsam mit den verbrüderten Formationen «Modem» (Zentrum) und der kleinen rechten Partei «Horizon» von Ex-Premier Edouard Philippe darauf hoffen muss, dass genügend der nur noch 62 klassisch konservativen Abgeordneten der Ex-Sarkozy-Partei «Les Républicains» ihnen, wie im Prinzip versprochen, die Stange halten und während der Parlamentsdebatte nicht nach und nach abtrünnig werden. Und sich am Ende zumindest der Stimme enthalten.
Denn in den letzten 2 Wochen wurde offensichtlich, dass fast zwei Dutzend Abgeordnete dieser Fraktion nicht für die Reform stimmen könnten. Ja, schlimmer noch: Selbst in der Präsidentenpartei gibt es – vor allem unter früheren Sozialisten, die zu Macron gewechselt waren – grosse Vorbehalte und es drohen ebenfalls Enthaltungen. Mit anderen Worten: Nicht nur die aussergewöhnlich machtvollen Proteste und Demonstrationen der letzten drei Wochen im ganzen Land sind ein Klotz am Bein von Präsident Macron, sondern auch die Frage, ob in der Nationalversammlung die nötige Mehrheit von mindestens 289 Stimmen zustande kommen wird.
Die Regierung stellt auf stur
«Das Renteneintrittsalter von 64 Jahren ist nicht verhandelbar», so Premierministerin Elisabeth Borne, ohne jede Kompromissbereitschaft vor einer Woche, keine 48 Stunden vor dem zweiten landesweiten Aktionstag gegen die Rentenreform. Präsident Macron erklärte seinerseits, diese Rentenreform sei «unerlässlich». Zwei Sätze, die letztlich ausdrückten: Ihr könnt ruhig weiter demonstrieren, wir bleiben hart und ziehen das Ding durch.
Ja, man durfte sich sagen, Premierministerin und Präsident wollten wohl, indem beide mit ihren Worten ein wenig Öl ins Feuer gossen, dafür sorgen, dass am vergangenen Dienstag sich noch einige Hunderttausend Menschen mehr in die Protestzüge einreihten als am 19. Januar, dem ersten Tag der Grossdemonstrationen im ganzen Land.
Und letztlich war es dann auch so: Landesweit 1,3 Millionen Frauen und Männer aus allen Berufsgattungen und Gesellschaftsschichten waren diesmal auf Frankreichs Strassen und Plätzen unterwegs, und das laut den Zahlen des Innenministeriums. Die Gewerkschaften wollen gar 2,5 Millionen gezählt haben. Wie auch immer: Es waren die grössten Demonstrationen in Frankreich seit Jahrzehnten.
Und die Nachrichtendienste erwarten bei den heutigen Grossdemonstrationen im gesamten Land erneut mindestens eine Million Teilnehmer.
Es wird ernst
Wenn innerhalb von drei Wochen dreimal hintereinander sich jeweils mehr als eine Million Französinnen und Franzosen in Demonstrationszüge einreihen, dann ist das wahrlich ernst zu nehmen und müsste bei den Machthabenden eigentlich alle Alarmglocken klingeln lassen.
Bei solch immensen Zahlen müsste auch dem Letzten klar sein, dass es sich bei den Demonstranten bei weitem nicht nur um Gewerkschafter, übliche professionelle Demonstranten und einen Haufen von Altlinken handeln konnte.
Nein, während der landesweiten Aktionstage am 19. und am 31. Januar war wirklich das Volk auf Frankreichs Strassen, Alt und Jung, Arbeiter und leitende Angestellte, Bauern, Intellektuelle, Krankenschwestern und Bankangestellte, Bauarbeiter, Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst, aber auch erstaunlich viele aus der Privatwirtschaft und vor allem unzählige Teilnehmer, die überhaupt zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration waren.
Von daher betonte Laurent Berger, der Chef der grössten französischen Gewerkschaft, CFDT, nach diesem Aktionstag, die Soziologie und die Geographie dieser Massendemonstrationen sei für Frankreich bislang einmalig.
Demos auf dem flachen Land
In der Tat waren die Demonstrationszüge an diesem 31. Januar – und werden es am heutigen Protesttag wieder sein – besonders beeindruckend in Frankreichs Klein- und Mittelstädten. In den abgehängten Regionen des Landes, wo es an Ärzten, an Krankenhäusern, an öffentlichen Diensten aller Art und besonders an Arbeitsplätzen mangelt, wo die Fahrten zur Arbeit extrem weit und die Löhne überwiegend gering sind.
Nur ein Beispiel: In Annonay, einer Stadt mit 16’000 Einwohnern im Département Ardèche, südlich von Lyon und westlich der Rhône, zählte der Demonstrationszug am 31. Januar sage und schreibe 8’000 Menschen. Nie zuvor hat diese Stadt so viele Protestierende auf ihren Strassen erlebt.
«Elisabeth, bist du taub?»
Premierministerin Borne sagte am Abend dieses zweiten Aktionstages am 31. Januar: «Diese Rentenreform wirft Fragen und Zweifel auf. Wir hören diese.»
Diese platte, ja nichtssagende Formulierung ist nicht mehr als eine perfekte Vorlage für Slogans der kommenden Aktionstage, nach dem Motto: «Elisabeth, geh zum Ohrenarzt» oder «Elisabeth, bist du taub?» «Die Premierministerin hört uns vielleicht zu, aber sie hört nicht, was wir ihr sagen», resümieren die Gewerkschaften.
Für Frankreichs Premierministerin, die in vorderster Linie steht und für den Präsidenten, der im Hintergrund die Fäden zieht, wird die Lage von Tag zu Tag komplizierter.
Denn eines ist mittlerweile klar: Frankreichs Regierung und Präsident Macron haben im Lauf der Wochen den Kampf um die öffentliche Meinung ganz eindeutig, ja haushoch, verloren .
Immer wieder hatte es seitens der Regierung geheissen, man müsse pädagogisch vorgehen und den Franzosen die Notwendigkeit dieser Rentenreform erklären, erklären und nochmals erklären .
Genützt hat es offensichtlich nichts, entweder weil Präsident, Regierungschefin und massgebliche Minister eher schlechte Pädagogen sind oder weil ihre Reform als solche und ihre Dringlichkeit einfach nicht zu erklären sind.
Denn seit das Reformpaket am 10. Januar vorgestellt wurde und nach und nach die künftigen Auswirkungen von Einzelheiten der Reform bekannt wurden, steigt die Zahl der Gegner Woche für Woche.
Immer mehr dagegen
Nach den letzten Umfragen sind inzwischen mehr als sieben von zehn Franzosen – sechs Prozent mehr als vor einer, 13 Prozent mehr als vor zwei Wochen – und neun von zehn Lohnabhängigen im Land gegen diese Reform, die sie als ungerecht und nicht nötig erachten und als echten Affront empfinden .
Doch Macron und seine mit der Kleinarbeit beauftragte Premierministerin machen weiter so wie bisher. Es ist als hätte sich der Präsident in den Kopf gesetzt, als derjenige in die Geschichte Frankreichs eingehen zu wollen, der es geschafft hat, eine Rentenreform in diesem Land wirklich durchzusetzen und der gezeigt hat, dass man ohne grosse Zugeständnisse ans Ziel gelangen und letztlich doch, auf Teufel komm raus, gegen sein Volk regieren kann, welche Nachwehen das in diesem eruptiven Frankreich auch haben mag.
Anders kann man Macrons Vorgehen in den letzten Monaten kaum erklären. Wirklich verhandelt mit den Gewerkschaften wurde diese Rentenreform definitiv nie.
Gewiss, es gab «Konsultationen» mit der Premierministerin und auch mit dem Präsidenten höchstpersönlich, zu denen die Gewerkschaftsführer auch brav erschienen waren, um dann zuzuhören, was man ihnen zu sagen hatte, ohne selbst wirklich gehört zu werden, beziehungsweise tatsächlich den Eindruck haben zu können, dass auch nur irgendetwas verhandelt werden sollte.
Entsprechend gross ist die Frustration, ja die Empörung bei den Gewerkschaftern und das Verhalten des Präsidenten dürfte durchaus mitgespielt haben, damit im Januar die in Frankreich so seltene Einheitsfront von acht verschiedenen Gewerkschaften zustande kam und nach über drei Wochen immer noch Bestand hat.
Fehlendes Fingerspitzengefühl, schlechtes Timing
Keine Frage: Präsident Macron hat sich gründlich verkalkuliert, was die Zustimmung zu dieser Rentenreform unter Frankreichs Bürgern angeht.
Er war angeblich zutiefst überzeugt, dass die Franzosen nach der endlosen Covid-Zeit und angesichts aller anderen Sorgen und Probleme, mit denen sie hadern, eher resigniert und ausgelaugt seien und nicht auf die Barrikaden gehen würden. Ein Kalkül, das gründlich daneben ging und wieder einmal zeigt, dass Emmanuel Macron schlicht keine Nase hat für so vieles, was die Franzosen wirklich beschäftigt.
Kaum jemand hat verstanden, warum der Präsident diese schwierige Rentenreform zu einem Zeitpunkt auf den Weg bringt, da die französische Bevölkerung in einem Höchstmass verunsichert und ermüdet ist. Nach zwei Jahren Covid und angesichts der steigenden Inflation, der Klimakrise und des Kriegs in der Ukraine herrschen in den Köpfen der Menschen einfach andere Prioritäten.
Dazu kommt , dass der Streit um die Rentenreform zu einem Zeitpunkt geführt wird, da in Frankreich die Dauer des Arbeitslosengeldes um 25 Prozent reduziert wird, die Strompreise um 15 Prozent steigen und die Autobahngebühren um 5 Prozent, während gleichzeitig ein Untersuchungsbericht erscheint, wonach die privaten Autobahnbetreiber in den letzten Jahren 55 Milliarden Euro zuviel kassiert haben.
Macrons Schwierigkeiten
Man kommt um den Eindruck nicht herum, dass dieser Präsident aus der Gelbwestenbewegung 2018/2019 absolut nichts gelernt hat. So wie Emmanuel Macron diese Rentenreform angegangen ist und sich seit dem Beginn der Proteste gegen dieses Reformvorhaben selbst darstellt, liegt der Verdacht nahe, dass der Präsident nach fast sechs Jahren im Elyséepalast weiterhin so gut wie taub ist für die Verzweiflung und die Wut, die im so genannten tiefen Frankreich herrscht, und nicht wirklich zu kapieren scheint, dass sich die jetzige Protestbewegung gewiss gegen die Rentenreform, aber auch gegen ihn selbst, den abgehobenen Präsidenten der Reichen richtet, der immer wieder unfreiwillig zu erkennen gibt, dass er vom Leben der so genannten einfachen Leute auf dem flachen Land und in der Provinz schlicht keine Ahnung hat. Und dass er auch nicht wirklich verstanden hat, dass Frankreich eben nicht nur Paris und sein Umfeld ist und auch nicht nur die dynamischen Regionalmetropolen wie etwa Lyon, Nantes, Bordeaux oder Rennes, sondern eben zu fast Dreifünfteln die tiefe Provinz .
2005 schon, beim Referendum über die EU-Verfassung, hatten alle Kommentatoren und viele Politiker diese Tatsache schlicht vergessen. Das Resultat am Ende: 55 Prozent der Franzosen stimmten beim Referendum glatt mit Nein. Den meisten urbanen Franzosen der Mittel- und Oberschicht fiel damals der Unterkiefer herunter und die Leitartikler in den Pariser Medien verstanden die Welt nicht mehr.
Keine Eile
Je länger die Debatte andauert, desto mehr kompetente Stimmen melden sich zu Wort, die nachweisen, dass die von Macron als besonders dringlich präsentierte Reform so dringlich gar nicht ist. 2022 hatte die französische Rentenkasse noch einen Überschuss von 3 Milliarden Euro. Angesichts dessen ist es schwierig, ja unmöglich, den Franzosen die absolute Dringlichkeit dieser Reform zu erklären, weil angeblich 2030 das Defizit des Rentensystems 13 Milliarden Euros betragen würde.
Wenn aber die Franzosen gleichzeitig hören, dass in den nächsten Jahren 400 Milliarden für die Armee bereitgestellt werden oder dass man 55 Milliarden zuviel den privaten Autobahnbetreibern überlassen hat, ja was sollen die Abermillionen, die gerade so über die Runden kommen und jetzt zwei Jahre länger arbeiten sollen, von Macrons Rentenreform halten? Sie sei gerecht und fortschrittlich, so die Premierministerin. Für die meisten Unterprivilegierten ist das zum Lachen oder eben ein Grund, um wütend zu werden. Denn für sie ist diese Reform in erster Linie ungerecht und brutal.
Sinn von Arbeit
Das äusserst holprig vorgetragene, von mehreren Kommunikationspannen begleitete Reformvorhaben Macrons hat in Frankreich fast nebenbei eine heftige Debatte über Arbeitsbedingungen, Arbeitsmoral, den Sinn der Arbeit und über soziale Ungerechtigkeiten ausgelöst.
In einer grossen, europaweiten Untersuchung wurde in den letzten Tagen dokumentiert, dass Frankreich, was die Arbeitsbedingungen und die damit verbundene Arbeitsmoral angeht, in Europa doch tatsächlich das Schlusslicht bildet .
Die Arbeiter in Frankreich fühlen sich über weite Strecken gering geschätzt und beklagen die fehlenden Möglichkeiten, Eigeniniativen ergreifen zu können.
Egal , was im restlichen Europa geschieht
Fast hilflos versuchen Macron und seine Regierung in dieser nun schon seit Wochen anhaltenden Debatte darauf hinzuweisen, dass in allen anderen europäischen Ländern deutlich härtere Rentenregelungen gelten und die Leute dort das Alter von 64 als Renteneinritt mit vollen Anrechten sehr gerne haben würden, geschweige denn die 62 Jahre, für deren Erhalt nun gekämpft wird. Doch dieses Argument wird, wie es viele Auslandskorrespondenten hier in Paris wahrnahmen und ihre Eindrücke in der Wochenzeitung «Courrier International» wiedergegeben wurden, mit einer gewissen Entrüstung und einer ordentlichen Portion Stolz einfach weggewischt. Wir sind wir, das französische Sozialmodell steht nicht zur Disposition, Globalisierung hin oder her und über die Grenzen unseres Landes oder besser des Tellerrandes schauen wir ohnehin kaum hinaus.
Ein Beispiel
Als man im Laufe der letzten Wochen einen empörten, alten Freund – Franzose, der in Chile geboren wurde und seit einem halben Jahrhundert in Paris lebt – mit Hilfe einer Grafik darauf hingewiesen hatte, dass das Renteneintrittsalter in sämtlichen europäischen Ländern höher ist als in Frankreich, erhielt man die folgende, eher entzürnte Mail, in der zwar sämtliche historischen Verweise nicht zutreffend sind, deren Inhalt insgesamt allerdings die Haltung von unzähligen Reformgegnern in Frankreich wiedergeben dürfte. «He, Kamerad», heisst es da, «ich war immer und bin immer noch dafür, dass der soziale Fortschritt solidarisch sein muss und jedem einzelnen erlaubt, dass er während seines Aufenthalts auf dieser Erde vom Wohlstand profitieren und dabei seinem Leben einen Sinn geben kann.
Zum anderen ziehe ich es vor, voranzuschreiten und nach Höherem zu streben, anstatt mich nach unten einzureihen.
In diesem Sinne glaube ich, dass dieses Frankreich, das wir lieben und bewundern, das oft die Avant- Garde war und ein ganz aussergewöhnliches Land ist, in seiner Geschichte einiges bewiesen hat.
Zur Erinnerung, und nehmen wir nur die letzten 87Jahre: 1936 bezahlter Urlaub für alle, 1945 die Schaffung der Sozialversicherung für alle und 1999 die 35-Stundenwoche. Errungenschaften, die das Resultat von Kämpfen und der Vernunft waren.
So viele Jahre der Kämpfe, Revolten, der Bewusstwerdung und der sozialen Weiterentwicklung der Gesellschaft, um heute in einen Prozess des Rückschritts zu verfallen? Und das, während gleichzeitig der Reichtum zunimmt, der sich, ohne verteilt zu werden, in der Hand von wenigen akkumuliert und so die Ungleichheiten immer grösser werden.
Und Monsieur Macron will weitermachen auf seinem Weg, nach und nach das Sozialsystem abzubauen, indem er das umlagenfinanzierte Rentensystem angreift und es zerstören möchte. Dabei plädiert er für ein System all der Länder, die ihre Bürger schlecht behandeln, um das neoliberale System noch weiter zu begünstigen .
Nein, ich will für meine Kinder keine Ramschgesellschaft, die die Lebensqualität künftiger Generationen geringschätzt.
Das erscheint mir ungerecht und unmenschlich. Ich lehne mich dagegen auf und ich protestiere.»
Ungewisse Wochen stehen bevor
Sollten die Grossdemonstrationen, Streiks und eine mögliche Blockade des Landes durch Ausstände der Eisenbahner, Raffineriearbeiter und des Personals der Elektrizitätsversorgung in den kommenden Wochen Präsident Macron nicht zum Einlenken bringen, könnte auch eine fehlende Mehrheit in der Nationalversammlung das Projekt zum Scheitern bringen.
Es sei denn, die Regierung greift erneut zu dem dubiosen und höchst umstrittenen Paragraphen 49.3. der Verfassung, den Premierministerin Borne bereits mehrmals angewandt hat, etwa um den Haushalt 2023 verabschieden zu können. Dieser Verfassungsartikel ermöglicht es der Regierung, ein Gesetz auch ohne Parlamentsdebatte und Abstimmung zu verabschieden. Im Gegenzug muss sie allerdings die Vertrauensfrage stellen.
Diesen Artikel nun auch bei der heiss diskutierten und umstrittenen Rentenreform, begleitet von einer der heftigsten Protesbewegungen, die das Land je erlebt hat, anzuwenden, käme nicht nur einer Provokation gleich, sondern auch einer Geringschätzung der Gegner, der Wähler und des Parlaments. Und es wäre das Eingeständnis der Regierung, dasss ihr nach all den gescheiterten Erklärungsversuchen nur noch die Brechstange bleibt .
Macrons zweite Amtszeit bereits ruiniert?
Selbst wenn Macron es tatsächlich fertig bringen sollte, die Reform, die besonders vom ärmeren Teil der französischen Bevölkerung als ungerecht empfunden wird, trotz millionenfacher Proteste durchzubringen, so hat er im Grunde trotzdem schon verloren .
Eine Verabschiedung des Gesetzestextes in seiner jetzigen Form wird in der Bevölkerung Frustration, Verbitterung und bei vielen auch schiere Wut auslösen. Unter der Oberfläche der Gesellschaft wird es heftiger denn je brodeln gegen die da oben, die Bereitschaft zu wählen wird weiter zurückgehen und der Glaube an die Politiker weiter dahinschmelzen.
Die Stimmung ist jetzt schon so, dass man festhalten kann: Macron erreicht die Franzosen in ihrer Mehrheit einfach nicht mehr. Er kann mittlerweile sagen, was er will, und sei es noch so perfekt formuliert und rhetorisch zum Teil genial – es kommt nicht mehr an. Die Masse der Franzosen sieht in ihm einen Schönredner, der zwar zuhört, dem das Gehörte aber eigentlich egal ist und der einfach so weitermacht, wie geplant und nach wie vor davon überzeugt scheint, er alleine wisse, was für das Volk das Richtige und das Beste ist.
Die verbleibenden vier Jahre bis zum Ende von Macrons zweiter und letzter Amtszeit werden so manchem im Land ausgesprochen lang erscheinen, vielleicht auch dem Präsidenten selbst.
Le Pen wird abkassieren
Sicher scheint heute schon, dass er nicht eingelöst hat, was er bei seiner Wahl 2017 lautstark verkündet hatte. Nämlich dass er alles tun werde, damit die Franzosen keinen Grund mehr hätten, sich der extremen Rechten zuzuwenden. Das Gegenteil ist eingetreten und möglicherweise hat Macron durchaus seinen Anteil daran.
Marine Le Pen verhält sich bei dieser Rentenreformdebatte jedenfalls äusserst diskret, darf sich als Chefin ihrer Fraktion mit 88 Abgeordneten im Parlament in aller Ruhe zurücklehnen und warten, wie viele weitere Stimmen ihr in den nächsten Jahren zufliegen werden von all denen im Land, die abgehängt und zutiefst frustriert sind, die sich nicht nur durch diese Rentenreform, sondern generell durch Macrons Politik benachteiligt fühlen.