Am Donnerstag stimmen die Schotten darüber ab, ob sie sich nach über 300 Jahren von England lossagen wollen. Die Unabhängigkeit war bis vor kurzem kein ernsthaftesThema, ausser für die Scottish National Party (SNP) von Alex Salmond. Die Partei war 1934 gegründet worden. 2011 errang sie zu aller Überraschung die absolute Mehrheit im schottischen Regionalparlament.
Alarm in London
Sie ist, wie ihre katalonischen Mitstreiter, nicht rechtsextremistisch wie die meisten nationalistischen Parteien in Europa. Sie ist sozialdemokratisch und will einen solidarischen Wohlfahrtsstaat nach skandinavischem Muster mit hohen Steuern und grosszügigen, staatlich garantierten Sozialleistungen. Sie ist resolut pro-europäisch und im dünn besiedelten Schottland für eine offene Einwanderungspolitik. Grösser könnte der Kontrast zur Tory-Koalitionsregierung von David Cameron in London nicht sein. Cameron ist für viele Schotten eine Reinkarnation von Margaret Thatcher, dem letzten grossen englischen Feind. Sie wollte ihre ominöse "Kopfsteuer" an den Schotten ausprobieren und hat sich dabei ihre schönen Zähne ausgebissen.
Vor einer Woche alarmierte eine Umfrage die Londoner Börse und die Parteien von Westminster: erstmals ergab sich eine knappe Mehrheit für das "Ja". Vor zehn Jahren waren es noch stagnierende dreissig Prozent. Andere Umfragen sagen ein knappes "Nein" voraus, als hätten die Schotten in letzter Minute Angst vor dem eigenen Mut. Aber die Chefs der drei grossen Parteien – Konservative, Liberale und Labour – eilten, separat zwar, aber am gleichen Tag, zu drei verschiedenen schottischen Orten für die "Nein"-Kampagne ("Better together" heisst ihr Slogan).
Die Queen mahnt
Salmond sprach von "schierer Panik" und offerierte die Rückerstattung der Reisekosten. Selbst die Queen, zu eisernem politischen Schweigen verpflichtet, musste nach dem Kirchgang nahe ihrer geliebten schottischen Sommerresidenz Balmoral (ihre Mutter war in diesen beiden eng verknüpften und eng verfeindeten Monarchien Schottin) sagen, sie hoffe, dass "die Menschen sehr sorgfältig über die Zukunft nachdenken werden". Jedermann weiss, dass sie gegen eine Abtrennung ist. Die britische Krone ist schliesslich der grösste Grundbesitzer in Schottland.
Gleichzeitig hatte der Vorgänger von Premierminister Cameron in Downing Street, der Schotte Gordon Brown, einen sofort beklatschten Dringlichkeitsplan (noch vor Weihnachten) für mehr schottische Autonomie im Falle eines "Nein" vorgelegt, was ihm vorher nie in den Sinn gekommen wäre. Browns Vorgänger Tony Blair, auch er in Schottland gebürtig, der mit "New Labour" die britische Sozialdemokratie schuf, hatte 1999 mit einer regionalen Teilautonomie für Schottland und Wales – noch weit entfernt von Föderalismus und den spanischen Lösungen (die auch nicht abdichten!) für Katalonien und das Baskenland – vergeblich die schottischen Gelüste zu zähmen versucht.
Allseitige Konfusionen
Die Förderung von Nordsee-Erdöl und Gas ab 1975 vor der schottischen Ostküste, die wachsende europäische Integration, das Ende des Kalten Krieges, der Rechtsrutsch der Tories in London, der schwindende Einfluss von Labour in Schottland – bisherig dessen Hochburg – und etwas Demagogie von Salmond ("Die kleinen Länder sind die erfolgreichsten") haben die Reihen der "Unabhängigen" anschwellen lassen. Vor zehn Jahren waren es noch dreissig Prozent gewesen.
Der sehr agile Salmond weiss einigermassen, was er will, aber nicht, was er kann. Er will an der Monarchie und am britischen Pfund – mit oder ohne Erlaubnis von London – festhalten und in der EU "bleiben". Die EU erklärt, dass dies ohne Neuverhandlungen – London und Madrid (wegen Katalonien) könnten ihr Vetorecht spielen lassen – und ohne eigene Zentralbank nicht möglich sei. Die seit 2010 abnehmenden Erdöleinnahmen fallen zudem nicht einfach einem unabhängigen Schottland zu. Erst müssen Investitionskosten und gemeinsame Staatschuld auseinanderdividiert und geregelt werden. Schottland wird von der Zentralregieung insgesamt pro Kopf stärker subventioniert als England. Die Nationalisten bezeichnen das als "Taschengeld".
Die Katalanen als scharfe Beobachter
In Horrorszenarien wird die Massenabwanderung von Firmen und Banken mit einer Kapitalflucht an die Wand gemalt. Schottland, das wie Mittelengland bereits seit langem seine Grossindustrie verloren hat, werden eine enorme Verschuldung und Steuererhöhungen angedroht. Aber auch England droht ein Verlust von der einstigen Weltmacht zu einem Land mittlerer Grösse in Europa (bereits "Rest-United-Kingdom" genannt), eine weitere Relativierung seines Finanzplatzes und dies vor Neuwahlen (2015) und der von Cameron provozierten Abstimmung über einen Verbleib in der EU.
In Deutschland freut man sich bereits, dass dannzumal Berlin und nicht mehr London der wichtigste Ansprechpartner für die Vereinigten Staaten sein wird. In Brüssel dagegen fürchtet man eine weitere Zersplitterung Europas. Die Katalanen warten schon Gewehr bei Fuss auf das Resultat aus Edinburg. Sollten die Nein-Sager gewinnen, müsste man nochmals einige Jahre warten. Aber Salmond kennt das Hoch und Tief von Autonomieregungen, auch der jurassischen im Übrigen. Er zitterte unmerklich, als er erfuhr, dass damals auch die ganze Schweiz darüber abstimmen musste.
Von Adam Smith bis Sean Connery
Ein unabhängiges Schottland müsste nicht mehr sein Licht unter den Scheffel stellen. Man wüsste endlich, wer Schotte war, dass seine Kultur sich nicht auf Dudelsack, Kilt und Whisky – der berühmten Single Malt – sowie Haggis (eine havarierte Leberwurst) reduziert. John Knox hat, radikaler als Calvin, hier die Reformation versteift. David Hume hat die europäische Aufklärung beflügelt, sein Freund Adam Smith unsere Marktwirtschaft erfunden und Alexander Fleming das Penicillin. James Watt hat die Dampfmaschine perfektioniert. Robert Burns, Walter Scott und Robert Louis Stevenson gehören zur Weltliteratur wie auch Arthur Conan Doyle, der Schöpfer von Sherlock Holmes, der aber nur englische Verbrecher entlarvte. In Glasgow und Edinburg schuf Charles Rennie Mackintosh einen Jugendstil, der Furore machte. Edinburg war eine europäische Kulturhauptstadt, bevor die EU diese Etikette entdeckte.
Der berühmteste Auslandschotte, der "Ewiges Schottland" auf dem Vorderarm tätowiert hat und James Bond mit schottischem Akzent spielte, ist der 84-jährige Sean Connery, der seit Jahrzehnten – oft im Kilt – für ein unabhängiges Schottland wirbt. Man kann ihn fast jedes Jahr am Festival von Edinburg sehen. Er hat jetzt einen Aufruf für das "Yes" im Skandalblatt "Sun on Sunday" erlassen.
Die Auslandschotten sind zwanzig Mal zahlreicher als die 5,3 Millionen Einheimischen (auf 64 Millionen im noch Vereinigten Königreich). Die Schotten haben eine friedliche Kampagne geführt. Das allein ist in heutigen Zeiten schon bemerkenswert. Sie sind eher pragmatisch gestimmt, die Emotionen sind wie bei den Briten unter Kontrolle. Die Schotten sind vielleicht, wie man ihnen nachsagt, geizig, aber nicht geldgierig. Vielleicht kommt daher ihre noch spürbare Angst vor dem eigenen Mut zur Unabhängigkeit.