Eines ist klar: Die digitale Technik entwickelt sich exponentiell, und mit ihr verändert sich die Welt rasant. Sie „wird nicht auf die Schweiz warten“, wie Prof. Michael Hengartner, Präsident von Swissuniversities, zu Recht betont. Es zählt nur eine Richtung: nach vorne. Das wusste zwar schon Gertrud, Stauffachers kluge Frau, in Schillers „Wilhelm Tell“: „Sieh vorwärts, Werner, und nicht hinter dich.“ Einen anderen Weg gibt es nicht.
Kein Gewinn ohne Verlust
Darum wird in den Schulen kräftig aufgerüstet. Die Kosten für die neue Technologie und das digitale Klassenzimmer spielen kaum eine Rolle. Dass solche Geräte pädagogisch wie organisatorisch notwendig und die digitalen Medien in Unterricht, Studium und Ausbildung wichtig sind, steht ausser Zweifel. Doch kein Gewinn ohne Verlust. Die einfache Gegenbuchung.
Die technisierte Welt entfernt sich immer weiter von der Natur. Das ist kein Geheimnis. Gleichzeitig wird die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen von morgens früh bis abends spät digital durchdrungen.[1] Das hat Folgen.
Bekannte Hightechwelt – unbekannte Natur
Heutige Jugendliche sind in der virtuellen Welt zu Hause; es ist ihr Alltagsbiotop. Zunehmend fremd dagegen werden Wald und Wiese. Die Natur wird zum unbekannten Land, wie es einst Amerika für den Seefahrer Christoph Kolumbus war: Terra incognita. Heutige Kinder kommen kaum mehr mit ihr in Kontakt. Der Trend ist eindeutig: „Die Distanz zur Natur wird immer grösser“, heisst es im „Jugendreport Natur“ von 2016. [2]
Im Wald wachsen Bananen
Damit geht grundlegendes Wissen verloren, sagt einer der Studienverantwortlichen der Universität Marburg. So wussten nur 35 Prozent der befragten Sechstklässler und Oberstufenschüler, wo die die Sonne aufgeht. 2010 waren es noch zwei Drittel der Interviewten. Schon die berühmte Lila-Kuh wies 1997 auf gravierende Defizite beim Naturwissen hin: 30 Prozent von 40’000 Kinder malten bei einem Wettbewerb die Kuh mit lila Farben aus – genauso, wie es der Schokoladenproduzent in der Werbung suggeriert hatte. Bananen, Ananas und Kokosnüsse können im Wald gesammelt werden, meinen heute viele Kinder auf die Frage nach essbaren Waldfrüchten.
In der Schweiz dürften die Befunde nicht viel anders sein, ist man bei Pro Natura in Basel überzeugt. Das Defizit zeigt sich auch an der Sprache. Aus Songtexten oder Filmen und sogar aus Jugendlexika verschwinden Naturbegriffe. Die Jugendausgabe 2015 des „Oxford Dictionary“ strich Ausdrücke wie „Brombeere“ oder „Grasland“. Sie machten Wörtern wie „Blog“ und „Voicemail“ Platz.
Natur wird zum Randphänomen
Das Phänomen der Naturentfremdung in der Hightechwelt ist bei uns für viele kaum der Rede wert. In Amerika und England dagegen ist man sich dieser Gefahr bewusst. Man spricht von der „Nature Deficit Disorder“. Der Grund: Kinder verbringen einen Grossteil ihrer Freizeit in virtuellen Räumen. Sie kennen und erleben die Rhythmen und Geheimnisse der Natur nicht mehr. Sie wird kaum mehr spielerisch entdeckt und erobert, sondern im Unterricht via Arbeitsblätter oder digitale Lernprogramme „angelernt“.
Digitale Pseudo-Wirklichkeit statt realer Natur
Das bringt uns mitten ins Kernproblem des schulischen Lernens: ins Spannungsfeld zwischen Erfahrungsraum und abstraktem Raum. Und konkret zur Frage: Was passiert mit der Natur, wenn sie Lernstoff wird und damit in den Aggregatszustand von Schulunterricht kommt? Sie verliert wohl das erlebbar Einmalige. Dieses Einmalige verflüchtigt sich und verdunstet. Arbeitsblätter duften nicht. Aus einem vielfältigen, auch sinnlichen Erfahrungsfeld wird die echte Natur zu einem verfügbaren Lerngegenstand. Dabei wäre sie auch von unseren evolutionären Dispositionen her ein wichtiger Gesundheitsfaktor. [3]
Das Wissen lässt sich, wie ein Junglehrer schwärmte, ohne grossen Aufwand per Knopfdruck oder Aufwischen ins Klassenzimmer holen: digitale Pseudo-Realität statt realer Natur. Und wie soll aus diesem Unterricht nachhaltiges und umweltgerechtes Verhalten entstehen, wie es der Lehrplan 21 so intensiv fordert? Was prägen und bleiben soll, muss zum Erlebnis werden. Das geht nicht über abstrakte Distanz, über Hors-sol-Beziehungen, das geht nur über gelebte Nähe.
Der Verstand geht auch durch die Hände
„Jetzt habe ich begriffen!“ Für einen Pädagogen der wohl schönste Schülersatz. Meist kommt er nach etwas Konkretem, etwas Haptischem, nach emotionalen Erfahrungen. Denken ist eben ein Abkömmling des Tuns, wie es der Berner Hochschullehrer und Kognitionspsychologe Hans Aebli betonte und dabei auf den klassischen didaktischen (Grund-)Satz verwies: Das Begreifen führt übers Greifen. Die Hände – so Aristoteles – sind der äussere Verstand.
Vor lauter digitalen Lernprogrammen darf eines nicht vergessen werden: Echte Erfahrungen sind nicht simulierbar und auch nicht an Arbeitsblätter delegierbar. Sie finden draussen in der Natur statt, in einem lebensnahen Naturunterricht. Noch immer gilt die alte Einsicht des Thomas von Aquin: „Nihil est in intellectu, quod non fuerit prius in sensu.“ Es gibt keine Erkenntnis, die zuvor nicht in den Sinnen war.
Das Leben ist analog
Die französische Philosophin Simone Weil spricht darum von „Enracinement“, von Einwurzelung und Verwurzelung in mir selber. Es ist eine Rückbesinnung auf die ganz persönliche Erfahrung. Und Bildung ist ja gekoppelt an Erfahrung – als Auseinandersetzung mit mir und der Welt. Die Welt als Metapher für das Neue, das „Fremde“.
Im dichten und getakteten Schulalltag von heute geht das leicht vergessen. Doch das Gegenläufige gehört schon seit eh zum Unterricht. Schule und Bildung müssten darum auch gegenhaltende Kräfte entwickeln, und dazu gehört das „Enracinement“, der enge Bezug zur Natur. Gerade so fänden wir auch die Energie, uns dem Neuen, Fremden adäquat zu stellen. Und wir könnten den notwendigen Realitätssinn entwickeln; denn das Leben ist nicht nur digital. Es ist primär analog. Neben der virtuellen Welt gibt es eine ganz konkrete Welt, die Natur. Zu Ihr führt kein digitaler Weg.
[1] Roland Reichenbach: „Digitale Kompetenz“? Bemerkungen zur Pädagogik des Lehrmittels. Msc, 2017.
[2] Rainer Brämer: Jugendreport Natur ’06. Natur obskur. Naturentfremdung in der Hightechwelt. Msc., 2016.
[3] António Damásio: Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung der menschlichen Kultur. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Siedler Verlag, München 2017.