Anstatt die Ukraine gegen die Aggression Putins voll zu unterstützen, steckt die Schweiz fest im Morast interner Auseinandersetzungen um veraltete Dogmen. Das war 1990 anders. Denn bereits 1990 war ein Jahr der Zeitenwende. Und zwar war es gleich eine doppelte Wende.
Positiv: der Beginn der raschen Implosion des Sowjetimperiums. Und negativ: der Ausbruch der gewaltsamen Auseinandersetzungen, welche zum Zerfall von Jugoslawien führten. Den zwei Ereignissen war gemeinsam, dass die schweizerische Aussenpolitik rasch reagieren musste, nicht Dogmen, sondern den wirklichen Interessen des Landes folgend und gleichzeitig den Werten des Rechtsstaates Schweiz entsprechend.
Innenpolitik der Aussenpolitik
Die Erkenntnis, dass sich die Karte Europas im Zeitraffer grundlegend veränderte, war damals auch in der Schweiz hochaktuell. Das wohl bei einer Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizern, was sich auch auf die Regierung auswirkte. Da damals die nationalistische Rechte, die heute unter der Anführung und mit dem Geld von Christoph Blocher bis weit in die politische Mitte und darüber hinaus Angst verbreitet, noch kaum eine Rolle spielte, ging eine Spaltung quer durch alle Parteien. Auf der einen Seite die Mehrheit der Veränderer, welche entsprechend der Wandlung in Europa regieren und nicht nur reagieren wollten, auf der anderen die in neutralitätspolitischer Vorsicht festgefahrenen Bewahrer. Im Bundesrat zählten Felber, Delamuraz, Cotti und Ogi zur ersten Gruppe, Stich, Villiger und Koller zur zweiten.
Die Neuordnung der diplomatischen Beziehungen und die tatkräftige Hilfe zur rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Wende – mit einem sehr rasch aufgegleisten ersten Osthilfepaket – gegenüber den neu wirklich unabhängigen Staaten Osteuropas nahm die Schweiz mitten im Pulk der westeuropäischen Staaten wahr. Dieser Prozess geschah im Rahmen internationaler Verhandlungen und gegenseitiger Abstimmung Westeuropas und Nordamerikas.
Osteuropa, Russland und die EU
Bei der diplomatischen Anerkennung der ehemaligen Sowjetrepubliken in der Folge der Auflösung der UdSSR auf den 1.1.1992 nahm dann die Schweiz mit Beschluss des Bundesrates vom 23.12.1991 eine Spitzenposition ein. Dies, um der geänderten Weltlage und dem Wunsch dieser neuen Staaten nach einer international gefestigten Position sowie unserem Interesse an Zentralasien für den schweizerischen Sitz im Internationalen Währungsfonds IMF gerecht zu werden. Eine vernünftige, auch interessengeleitete Aussenpolitik eben.
Eine politische Anekdote veranschaulicht, dass der erwähnte Riss zwischen Veränderern und Bewahrern auch mitten durch die Verwaltung ging: Eine geplante, vom Bundesrat eigentlich genehmigte erste Besuchsreise der «grossen» Schweiz (Spitzen aus Politik, Wirtschaft mit Jumbokredit zu günstigen Bedingungen und Kultur, eingeschlossen etwa Fredy Knie und Emil) im neu demokratischen Russland wurde durch Verhinderungspolitik des damaligen konservativ- vorsichtigen Botschafters in Russland und Teilen des EDA effektiv sabotiert.
Auf der Linie vernünftiger, auch interessengeleiteter Aussenpolitik ist ebenso der damalige Mehrheitsbeschluss im Bundesrat zur Einreichung eines Beitrittsgesuches zur damaligen EG, heute EU, zu verstehen. Es ging darum, im Verbund mit gleichgesinnten, bislang ebenfalls neutralen Staaten eine ideale Verhandlungsposition gegenüber der absehbar rasch wachsenden europäischen Gemeinschaft einzunehmen, also zusammen mit Österreich, Schweden und Finnland. Was auch beinahe gelungen wäre, hätte nicht die erstmals wuchtige Politik- und Finanzkraft von Blocher mit einer bislang ungewohnten Schmutzkampagne die EU so schlecht gemacht, dass die entscheidenden zehn Prozent Ja-Stimmen in der EWR-Abstimmung fehlten.
Jugoslawien
Angesichts der zahlreichen damaligen Gastarbeiter aus allen Teilen von Ex-Jugoslawien konnte – und kann übrigens heute noch – die Schweiz durchaus als «Frontstaat» bei der gewaltsamen Zerschlagung des Vielvölkerstaates Jugoslawien bezeichnet werden. Die offizielle Schweiz reagierte damals rasch mit der diplomatischen Anerkennung der neu unabhängig gewordenen Teilstaaten, welche angesichts der mehrheitlich serbischen, später auch kroatischen Aggressionen dringend auf internationale Unterstützung angewiesen waren.
Diesem richtigen, weil frühzeitigen Entscheid des Bundesrates gingen auch verwaltungsintern epische Schlachten voraus, wobei damals die «Ayatollahs» der althergebrachten Neutralität und Vorsicht in der Völkerrechtsdirektion des EDA und im Bundesamt für Justiz den Kürzeren zogen.
Auch bei der raschen und eindeutigen Verurteilung serbischer Kriegsverbrechen, so bei der wahllosen Bombardierung der kroatischen Stadt Vukovar, fielen die Worte der offiziellen schweizerischen Verurteilung («Serbien entfernt sich so aus dem Kreis von zivilisierten Staaten») hart aber gerechtfertigt aus. Was übrigens dem Autor dieser Worte einige Probleme in seiner Karriere einbrachte.
Und heute?
Nach verheissungsvollem Beginn – der vollen Übernahme aller EU-Sanktionen gegen Russland – ist die Verwaltung und an deren Spitze der Bundesrat angesichts der Putinschen Aggression in der Ukraine wieder in einen längst vergangen vermeinten Trott von konservativer und übervorsichtiger Neutralitätspolitik zurückgefallen.
Mit Bezug auf unsere Neutralität wird fälschlicherweise behauptet, dass ein über hundertjähriges Dokument (die Haager Landkriegsordnung, unter den völlig verschiedenen geopolitischen Strukturen von Europa im 19. Jahrhundert entstanden) über dem eindeutigen völkerrechtlichen Gewaltverbot der Uno-Charta und damit der Möglichkeit zur Selbstverteidigung und Hilfeleistung von Aggressionsopfern stehe.
Also keine auch indirekten Waffenlieferungen, welche für älteres Rüstungsmaterial ohne weiteres und für Leopard-II-Panzer mit Notrecht des Bundesrates ohne weiteres möglich wären. Ein paar Dutzend Leo II, welche in der Ukraine zur Verteidigung Europa dringend nötig wären, die aber, von der schweizerischen Armee ausgemustert und im Verteidigungsbudget voll abgeschrieben, in Ostschweizer Kavernen nutzlos herumstehen.
Vorschnelle Festlegung bei eingefrorenen Russengeldern
Die Schweiz, als reiches Land mit international stabiler Währung, könnte via ihre Reserven im Internationalen Währungsfonds (IMF) Kiew dringend benötigte Zahlungsbilanzhilfe in Milliardenhöhe zur Verfügung stellen. Dies, ohne das Bundesbudget zu belasten, durch einen gemeinsamen Beschluss von Nationalbank und Finanzdepartement.
Geradezu zynisch mutet es an, dass die Schweiz dort, wo sie im Verhältnis zu Putins Russland international zählt, als erstes Land negativ vorgeprescht ist: Die Verwendung eingefrorener Russengelder zum Wiederaufbau der Ukraine sei «mit der schweizerischen Verfassung nicht kompatibel» und überhaupt «rechtsstaatlich bedenklich». Dies wird diejenigen westlichen Staaten, wie etwa Kanada, welche eine solche Verwendung ins Auge fassen, kaum freuen. Zudem sind zu dieser durchaus komplexen Frage informelle Gespräche angelaufen, denen Verhandlungen und eine Abstimmung unter den westlichen Ländern folgen werden. Auch hier stellt sich die Schweiz ohne Not ins Abseits und auf die falsche Seite der Geschichte, was sich in Zukunft rächen wird.
Was unseren höchsten Verantwortlichen im Gegensatz zu 1990 fehlt, ist die Einsicht, dass der Ukrainekrieg jetzt und heute nach einem entscheidenden Tatbeweis des demokratischen Rechtsstaates Schweiz verlangt. Wie das in allen anderen Hauptstädten Europas verstanden wird: Alles andere als ein Sieg über die Putin-Aggression und seine Kriegsverbrechen würde nicht nur die Sicherheitsstrukturen von ganz Europa ins Wanken bringen, sondern auch die Fundamente unserer Staaten.