Seit in Italien die Postfaschisten unter Giorgia Meloni an der Macht sind, ist das Thema «Vergangenheitsbewältigung» wieder vermehrt in den Fokus gerückt. Dass Italien Mühe hat, die Mussolini-Zeit aufzuarbeiten, ist längst bekannt. Jetzt ist der Streit darüber wieder offen ausgebrochen.
Am 23. März 1944 marschiert das faschistische deutsche Regiment «Bozen» durch die Via Rasella im Zentrum von Rom. Plötzlich feuert eine Gruppe linksgerichteter Partisanen auf die 156 vorbeimarschierenden Männer. 33 Deutsche und zwei Italiener sterben. Es war der blutigste Anschlag italienischer Partisanen auf die deutsche Besatzungsmacht.
Als Vergeltung treiben die Deutschen am Tag danach 335 italienische Zivilisten in die Ardeatinischen Höhlen südlich von Rom und massakrieren sie. «Zehn Italiener für einen Deutschen», heisst der 1962 vom italienischen Regisseur Filippo Walter Ratti gedrehte Film.
«Alles andere als nobel»
Der italienische Senatspräsident Ignazio La Russa, Mitbegründer der postfaschistischen «Fratelli d’Italia», hat nun den Angriff der Partisanen auf die Deutschen in der Via Raselli als «alles andere als nobel» (tutt’altro che nobile) bezeichnet. La Russa, nach dem Staatspräsidenten der zweitwichtigste Mann in Italien, gilt seit jeher als Verharmloser des Faschismus. Zu Hause besitzt er eine Sammlung von Mussolini-Statuen, Bildern, Briefen und Devotionalien. «Wir sind alle Erben des Duce», sagt er. Der Faschismus habe auch «seine Lichtblicke» gehabt. Alessandro Zan, ein sozialdemokratischer Abgeordneter, nannte La Russa einen «erklärten Faschisten, der zwischen Mussolini-Büsten schläft».
Früher plädierte La Russa, der an der HSG in St. Gallen studiert hatte, einmal dafür, den Euro durch den Scudo Romano, eine alte römische Währung zu ersetzen. Zudem beantragte er, wegen der Corona-Pandemie den Händedruck abzuschaffen und ihn durch den «Römischen (faschistischen) Gruss» zu ersetzen. Auch La Russas Bruder ist aus gleichem Holz geschnitzt. Bei der Beerdigung eines Rechtsextremen hob er den Arm zum Römischen Gruss.
Jetzt sagte La Russa, dass «diejenigen, die von den Partisanen getötet wurden, keine bösen SS-Nazis waren, sondern eine Gruppe von Halbpensionären». Die Opposition im Parlament schrie auf.
«Tag der Befreiung»
Anschliessend ruderte La Russa zurück und entschuldigte sich halbherzig und wenig glaubhaft. Er habe nicht gewusst, dass die Getöteten in der Via Rasella Deutsche gewesen seien.
Nicht genug: Mehrere Vertreter der «Fratelli d’Italia» möchten den 25. April als «Tag der Befreiung» abschaffen. Am 25. April 1945 flüchtete Mussolini mit seiner Geliebten Clara Petacci an den Comersee. Dort wurde er am 27. April aufgespürt und von einem Partisanenkommando erschossen. Der «Tag der Befreiung» ist vor allem ein Feiertag der italienischen Linken.
Daran stören sich die Postfaschisten seit langem. La Russa schlug vor, am 25. April nicht den Sieg über den Faschismus zu feiern. Das Datum solle zum «Tag des Gedenkens an die Opfer aller Kriege, einschliesslich der Opfer des Coronavirus» erklärt werden. Also: La Russa bagatellisiert die Schrecken des Faschismus, indem er sie mit der Corona-Pandemie vergleicht. Auch Lorenzo Fontana, der sehr rechtsgerichtete, ultrakatholische italienische Kammerpräsident, will nicht, dass am 25. April der Sieg über den Faschismus gefeiert wird. Stattdessen schlägt Fontana vor, an diesem Tag dem Heiligen Markus zu gedenken.
«Gemeinsame historische Wahrheit»
Auch Giorgia Meloni, die jetzige Ministerpräsidentin, hatte sich früher für die Abschaffung des «Tages der Befreiung» ausgesprochen. Dies sei «ein spaltender Feiertag», hatte sie gesagt.
Jetzt fordert die Opposition im Senat La Russa mit dem Antrag heraus, den 25. April weiterhin offiziell als Feiertag zu begehen. Eingebracht wurde der Antrag von den Fraktionsvorsitzenden der Sozialdemokraten, der Cinque Stelle und des sogenannten «Dritten Pols» des früheren Ministerpräsidenten Matteo Renzi und des Senators Carlo Calenda.
Die Feierlichkeiten müssten, so wird in dem Text betont, unter Wahrung der «gemeinsamen historischen Wahrheit» stattfinden, denn «nur so» könne «ein fruchtbarer Boden für die Erhaltung und den Aufbau einer kollektiven Identität und eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gemeinschaft» geschaffen werden.
Melonis Kehrtwende
Der Text zitiert auch eine Rede der Holocaust-Überlebenden Liliana Segre, die jetzt Senatorin auf Lebenszeit ist. Segre, eine Jüdin, fragte im Parlament, warum denn der 25. April als «trennendes Datum» empfunden werde.
Im Internet wurde eine Petition aufgeschaltet, die den Rücktritt von La Russa verlangt. Zehntausende haben bereits unterschrieben. Zahlreiche Intellektuelle und Künstler – keineswegs nur Linke – unterstützen die Petition.
Während des letztjährigen Wahlkampfs war Giorgia Meloni mit Alessandra Mussolini, der Enkelin des Diktators aufgetreten. Im Logo der Fratelli-Partei befindet sich noch immer die dreifarbige Mussolini-Flamme. Auch Meloni hatte Sätze gesagt wie «Nicht alles an Mussolini war schlecht und falsch». Kurz vor den Wahlen dann erklärte sie: «Die italienische Rechte hat den Faschismus der Geschichte überantwortet und die Unterdrückung der Demokratie sowie die schändlichen antijüdischen Gesetze verurteilt.» Ihre Kritiker werfen ihr vor, dass sie sich mit diesem Satz auch beim gemässigten Wählerpotential empfehlen wollte. Im Grunde sei sie eine Postfaschistin geblieben. Doch vielleicht hat sie sich gewandelt.
Faschistisches Erbe
Seit sie Regierungschefin ist, nimmt sie – zur Überraschung vieler – eine integrative Rolle ein und versucht, ihr postfaschistisches Image abzustreifen. Sie besuchte das jüdische Ghetto in Rom und erklärte, ihre Partei habe den Faschismus abgehakt.
Und jetzt weist sie auch La Russa, mit dem sie zusammen die Fratelli d’Italia gegründet hatte, zurecht. Sie nennt seine Aussage zu den Ereignissen in der Via Rasella eine «institutionelle Ungeschicklichkeit».
Beginnt sich Meloni vom Postfaschismus, in dem sie jahrzehntelang sozialisiert worden war, zu distanzieren? Wird sie sich der Verantwortung als «Ministerpräsidentin aller Italiener und Italienerinnen» bewusst? Oder ist alles nur Fassade, wie ihre Gegner vermuten? Sicher ist, dass sich in ihrer Partei noch viele hartnäckige Mussolini-Anhänger befinden, die sie berücksichtigen muss. Die Regierungschefin schleppt ein grosses faschistisches Erbe mit sich.
«Mussolini hat niemanden umgebracht»
La Russa ist mit seinen offenen und verdeckten Sympathien für Mussolini keineswegs allein. Auch Melonis Koalitionspartner Matteo Salvini und Silvio Berlusconi äussern sich immer wieder in ähnlichem Sinn. Mussolini habe «viel Gutes getan und niemanden umgebracht», sagte Berlusconi – dies angesichts der Tatsache, dass der Duce für den Tod Hunderttausender Menschen verantwortlich ist. Und Salvinis Beziehungen zu rechtsextremen Kreisen (Casa Pound) sind bekannt.
Und die Bevölkerung? Spricht man mit Italienern und Italienerinnen, so erstaunt immer wieder, wie wenig sie über die Mussolini-Zeit wissen – oder wissen wollen. Da hört man Sätze wie «Hört doch endlich auf mit Mussolini, das sind vergangene Zeiten». Oder: «Er wurde von den Nazis gezwungen, so zu handeln». Oder: «Er war eine Geisel Hitlers», (obschon er schon über zehn Jahre vor Hitler an der Macht war und wütete). Oder: «Er hat die Pontinischen Sümpfe trockengelegt», (obwohl die Trockenlegung längst vor ihm begonnen hatte).
Augen zu
Italienische Vergangenheitsbewältigung besteht darin, dass man das Thema verdrängt. Auch der italienische Aussenminister Antonio Tajani, Mitglied von Berlusconis «Forza Italia»-Partei, tut das. Letzte Woche sagte er: «Der Faschismus endete 1945, das ist eine Vergangenheit, die uns nicht interessiert oder betrifft.»
Eine seriöse Aufarbeitung des Faschismus hat in Italien nicht stattgefunden. Und wird wohl auch nicht stattfinden.
Spricht man mit Lehrern und Lehrerinnen, so erfährt man, dass das Thema Mussolini nur am Rande präsentiert wird. Natürlich gibt es Ausnahmen. Eine Lehrerin erklärt uns, sie habe den italienischen Faschismus in der Schule ausführlich behandelt. Eltern hätten sie daraufhin kritisiert. Man habe ihr vorgeworfen, dass sie die Schülerinnen und Schüler «indoktriniere».