Seit der Veröffentlichung von Voltaires philosophischer Erzählung mit dem Titel «Candide ou l’Optimisme» im Jahr 1759 kennt die Menschheit die lächerliche Figur des unverbesserlichen Optimisten, der trotz widrigster Erfahrungen und Lebensbedingungen unbeirrt daran festhält, «in der besten aller möglichen Welten» zu leben und zu wirken.
Voltaires bissige Satire über ein Leben, in dem jede und jeder von Naturkatastrophen, Kriegen, Machtkämpfen, Betrügereien, Folter, Habgier, Armut, Raub und Mord geradezu umstellt ist, war die Antwort eines Denkers und Schriftstellers auf die schönfärberischen Daseinsdeutungen christlicher Theologen und Philosophen im Zeitalter der Aufklärung. Wie soll man an einen menschenfreundlichen und fürsorgenden Gott glauben, wenn dieser 1755 im Erdbeben von Lissabon 30’000 Menschen den Tod finden lässt? Wie an das Beste im Menschen glauben, wenn Kirche und Staat in Eroberungszügen und Kriegen Tausende leiden und umkommen lassen?
Satire öffnet die Augen
Voltaire kleidete seine Kritik an den Institutionen und ihren Vertretern in die Form eines abenteuerlichen Reiseromans, man könnte auch sagen: einer satirischen Fabel. Diese führt die Lesenden durch ganz Europa und weit darüber hinaus nach Surinam zu den südamerikanischen «Wilden» – ein beliebtes Kontrastthema im 18. Jahrhundert zum Verhalten der «Zivilisierten».
Die Protagonisten des Romans – der naive Candide und seine Geliebte Cunegonde, der Vielschwätzer Panglosse, eine alte Dame, Tochter eines Papstes, um nur die wichtigsten zu erwähnen – kommen auf ihren Stationen mit Vertretern der unterschiedlichsten Berufe und Stände ins Gespräch: mit Adligen und Militärs, mit Jesuiten und Juden, mit Händlern und Fälschern, mit Prostituierten und Bettlern. Am Ende der Erzählung erleben wir Geschichten aus Konstantinopel und aus Venedig. Die geradezu weltweite Menschheit in besonderen Prachtexemplaren aus vielen Religionen und Kulturen!
Voltaire hat seinen Kurzroman anonym publiziert, die Druckgeschichte dieser rasch von der Zensur verbotenen Schrift ist komplex, doch sie verbreitete sich unaufhaltsam in allen europäischen Zentren und Sprachen und wurde zu einem von Voltaires beliebtesten Werken. Längst zählt das kurze Buch in jeder Schule, die diesen Namen verdient, zur obligatorischen Lektüre der Literatur von universeller weltliterarischer Bedeutung.
Verständlicherweise hat sich auch die Oper für diese an Witz und Frechheit kaum zu überbietenden Geschichte des durchs Leben stolpernden Simpels Candide interessiert, dessen allerhöchste Lebensweisheit im Schlusssatz des Romans kulminiert: «Il faut cultiver notre jardin – es gilt, unseren Garten zu pflegen!». Manchmal sind auch nur einzelne Episoden daraus in Musik gesetzt worden. So ist Giovanni Paisiellos Oper «Il Re Teodoro in Venezia» (1784) – nach einem Libretto von Giambattista Casti – die Vertonung zweier historischer Figuren, die im 26. Kapitel von Voltaires «Candide» in Erscheinung treten. Diese Oper vermittelt einen nicht ganz zureichenden Eindruck der Bedeutungsvielfalt von Voltaires Roman.
Als ein musikalisches Meisterwerk ist Voltaires «Candide» erst in die Musikgeschichte eingegangen, als Leonard Bernstein nach einer englischen Textvorlage von Lillian Hellmann daraus im Jahr 1956 ein Musical machte. Wie beim Text ist auch bei der Musik dieses Werks die Entstehungsgeschichte von Bernsteins «Candide» lang und kompliziert.
Musical, Operette oder gar komische Oper?
Wir kennen heute das Werk in der ersten Musical-Fassung, wobei damals unterschiedliche Texter und Lied-Lieferanten, Orchestrierer und Bearbeiter am Produkt mitgewirkt haben. Mit den Jahren empfand Bernstein, das Werk habe sich zu sehr von der ursprünglichen Intention und vor allem von Voltaire entfernt. Denn das Thema der Erzählung war ihm zu wichtig, um es zum Musical-Klamauk verkommen zu lassen.
Eine neue Textfassung von Hugh Wheeler entstand nach Lillian Hellmans Tod 1984, man brachte das Werk in richtige Opernhäuser, schliesslich dirigierte Bernstein selbst 1989 in London eine Konzertfassung mit gesprochenen Zwischentexten, die man inzwischen als «version révisée finale» bezeichnet. Fakt ist, dass diese der Leistung Voltaires wie jener von Bernstein wohl am gerechtesten wird. Sie enthält auch jene Szenen und jene Musik – bestehend aus Chorszenen, Arien, Duetten und Ensembles –, die eine vergnügungsorientierte Unterhaltungsindustrie mit der Zeit durch anspruchslosere Chansons und Couplets ersetzt hatte.
Denn was ist das genau, ein «Musical»? So lautet die üblich gewordene Bezeichnung für das, was ursprünglich «musical comedy« hiess und eine Art Varieté-Theater war, bestehend vor allem aus Songs der schmissigen bis schnulzigen Art in Abwechslung mit Tanzszenen der kostümreichen und kostümknappen Ausstattung. Heute haben Pop und Rock das Musical stärker noch als die leichte Klassik im Griff – was durchaus legitim und bühnenwirksam ist. Für die Opernmusik von Bernstein – ob «Candide» oder die «West Side Story» – erweisen sich hochprofessionelle Chöre, die bestmöglichen Solistenstimmen und ein grosses und erfahrenes Symphonie- oder Opernorchester von einleuchtendem Vorteil gegenüber jedem Musikensemble eines Vaudeville-Theaters.
Eine Glitter- und Glanzarie
Wir werfen hier einen Blick auf eine der bekanntesten Arien aus Bernsteins «Candide». «Glitter and be gay» heisst das Stück: «Glänze und sei lustig». Cunegonde ist inzwischen in Paris, macht gerade im Liebesgeschäft Karriere und beglückt dort einen reichen Juden und den Kardinal-Erzbischof abwechselnd mit ihren Liebesgaben. Wäre sie daheim geblieben, so wäre wohl ihre Tugend noch unbefleckt, bis sie in die Hand eines Grossherzogs gefallen wäre! Geboren sei sie zwar zu hohen Zielen, doch lasse sie jetzt die Flügel hängen, wenn sie an ihr Schicksal denke.
Doch Cunegonde ist nicht zum Jammern und Heulen geboren. Sie will das Leben geniessen, Champagner trinken, kostbare Kleider tragen, mit Perlen, Rubinen, mit Ohrringen und Broschen, mit Halsketten aus Diamanten verehrt werden und auftreten. Und wenn es mit ihrer moralischen Reinheit nicht weit her sei, ihre Saphire und Ohrringe seien in jedem Fall rein und hochkarätig! Auch wenn sie sich über ihren Beruf als Kurtisane und Kokotte schämt, wie sie behauptet: es merkt ein jeder, dass ihre moralische Scham erstunken und erlogen ist. Lachen will sie, Reichtum und Luxus geniessen unter denen, die sich alles leisten können.
Ein wahres Paradestück hat Bernstein für seine Cunegonde hier komponiert: eine Selbstdarstellerin par excellence, die ebenso zu Tränen rühren wie frenetischen Beifall auslösen kann. Sie seufzt und wimmert, verlacht und verspottet, spielt nichts als sich selbst, und gewinnt doch die Herzen all jener, die ihr beglückt zuhören. Man könnte diese Arie beinah als eine Parodie auf die Stars der Opernbühne ansehen, auf die Stars und die Divas, denen das Publikum – damals wie heute – nicht mehr anders kann, als sie masslos zu lieben und mit unermesslichen Honoraren zu beglücken.
Wer beim Hören dieser Arie nicht mehr glaubt, dass er in der besten aller möglichen Welten lebt, ist entweder unmusikalisch oder ein Genuss- und Lebensverächter.
Diese Bravourarie braucht eine Koloratursopranistin der allerersten Liga, um das ihr einkomponierte Glanzpotential zu entfalten. Es ist ein Paradestück, das Sängerinnen gerne wählen, wenn es darum geht, ein Publikum mit musikalischem Flitterglanz aus dem Häuschen zu bringen.
Die hier ausgewählte Aufnahme ist jene der Konzertfassung, die Bernstein selbst am 13. Dezember 1989 im Londoner Barbican Center dirigierte. Die Sängerin ist June Anderson, das Orchester das den Intentionen des Maestro in allen Details so einfühlsam wie präzis folgende London Symphony Orchestra.