Bäretswil, Gemeindehaus: Bei der Bushaltestelle verführt der Volg mit Bänken und Tischen zu einem ersten Trunk. Ich erinnere mich an schwere Beine nach zu früher Einkehr, lasse die Versuchung links liegen, gehe an der Siedlung Hüttenacher vorbei Richtung Dorfrand. Dort stelle ich mir vor, ein Zauberer hätte mich an einen unbekannten Ort unseres Planeten versetzt und ich müsse herausfinden, wo ich bin.
Ich stehe am Rand eines asphaltierten Strässchens. Mein Blick schweift, vorbei an vereinzelten Obstbäumen, über eine saftig grüne Wiese hinauf zum Wald. Auf halber Höhe stehen mit schwarzen Zahlen bemalte Tafeln, säuberlich in einer Reihe ausgerichtet. Sie lassen mich an die geheimnisvolle Botschaft einer mir unbekannten religiösen Gemeinschaft denken. Neben dem Strässchen steht ein Metallpfosten, daran ein grüner Kasten, darüber eine Tafel, deren Vorderseite ich nicht sehen kann, ganz oben zwei gelbe Pfeile mit aufgemalten schwarzen Männchen, welche eine schwere Last zu tragen scheinen. Rechts geht ein schmaler Pfad von der Strasse ab. Er führt zu einer Holzhütte, an deren Wand in grossen Buchstaben das Wort SKILIFT prangt. Dahinter zieht sich eine Reihe metallener Masten zum Waldrand hinauf ...
Markenzeichen einer Kulturlandschaft, welche ihre Identität nicht verbergen kann! MUSEUM SCHWEIZ möchte ich darunter schrieben, nicht nur hier, sondern immer wieder auf der folgenden knapp zweistündigen Wanderung: Schiessplatz, Abfallbehälter für Hundekot, Wanderwegweiser, ein Skilift, der auf der grünen Wiese an einen gestrandeten Walfisch erinnert.
Natürlich tue ich dem Skilift (immerhin 700 m über Meer) Unrecht, wenn ich ihn, zusammen mit alpinen Gletschern, bereits ins Museum verbanne. Auf dem Internet erfahre ich später, dass Enthusiasmus und Einsatzfreudigkeit der „Skiliftgenossenschaft Steig-Bäretswil“ ungebrochen und bewundernswert sind. Der fest installierte Skilift stammt aus den 1960er Jahren; dazu kommen, wie die Bilder aus dem letzten Winter zeigen, mobile Schlepplifte, welche jeden Winter neu montiert werden müssen. Fazit der Genossenschaft: „Die Saison 2020/2021 ist beendet. Wir schauen auf einen schneereichen und intensiven Winter zurück mit vielen schönen Erinnerungen.“
Und die kommunalen Schiessplätze? – Tatsächlich waren sie während der letzten Jahre zahlenmässig auf dem Rückzug, aber ich bin überzeugt, für viele Schweizer – wohl auch für ein paar Schweizerinnen – gehören sie, als Wahrzeichen der wehrhaften, freien Schweiz, noch lange nicht ins Museum. Andere wünschen sie wohl zum Kuckuck.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass meine spontane museale Assoziation weniger mit einer objektiven Bestandesaufnahme unseres Landes zu tun hat als mit mir selbst, mit der Erinnerung an meine Kindheit und Jugend, an frühere Bilder, welche ich in den stark veränderten Siedlungsgebieten des Mittellandes kaum noch wiederfinde. Umso stärker wirken daher auf den in die Jahre gekommenen Betrachter jene Orte und Landschaften, welche sich in den letzten 60 Jahren wenig verändert zu haben scheinen.
Ich bin auf dem Industriepfad Zürcher Oberland zwischen Bäretswil und Bauma unterwegs. Hinter Bäretswil führt der mit informativen Tafeln versehene Weg auf einem alten Hohlweg steil hinauf zum Weiler Rüetswil, der sich auf einer Hochebene hinter dem Greifenberg versteckt. Der Weg mit dem Namen „Steig“ werde, so lese ich auf einer Tafel, erstmals 1541 erwähnt, aber tatsächlich müsse der Hohlweg viel älter sein.
Die Talsenke nördlich von Rüetswil wird durch einen Seitenarm des Wissenbachs entwässert. Dieser ist seit bald zweihundert Jahren der wichtigste Wasserlieferant eines bis heute weitgehend intakten Kanalsystems, welches einst der Spinnerei Neuthal die nötige mechanische Energie lieferte. Beim Weiler Hinterburg nehme ich rechts einen kleinen Weg entlang des Baches und stosse bald auf ein Wehr, wo früher Wasser in eine Rohrleitung zum Farenbühlweiher geleitet worden ist.
Während ich dem Industriepfad folge, der über der unterirdisch verlegten Wasserleitung angelegt ist, kommen mir meine ersten Vorlesungen an der ETH über „Technik und Umwelt“ in den Sinn, die ich vor bald 50 Jahren bei den Elektroingenieuren halten durfte. Natürlich wussten meine Zuhörer – ja, es gab auch ein paar Zuhörerinnen – über Energie bestens Bescheid. Für sie, die künftigen Elektroingenieure, war die Elektrizität, mit der sie in aller Selbstverständlichkeit aufgewachsen waren, Ausdruck des modernen Energiezeitalters: Energie gibt es überall. jederzeit und für jede beliebige Anwendung, für den Betrieb von Maschinen, für die Beleuchtung, zur Erzeugung von Wärme und für anderes mehr.
Aber wussten sie auch, dass es bis zur Erfindung der Dampfmaschine zwei Energiearten gegeben hat, die Wärmeenergie und die mechanische Energie, welche scheinbar nichts miteinander zu tun hatten? – Wärme erzeugte man durch Verbrennung von Holz, später auch von Kohle, während die mechanische Energie, etwa für den Transport von Waren, das Mahlen von Getreide oder das Pumpen von Wasser, in erster Linie auf der menschlichen und tierischen Muskelkraft und, dort wo es sie gab, auf Wind- und Wasserkraft beruhte. Die Dampfmaschine, mit der es schliesslich gelang, mechanische Energie aus Wärme zu erzeugen, brachte zwar eine gewisse Unabhängigkeit von der Wind- und Wasserkraft. Dampfschiffe befuhren nun Meere und Flüsse, Dampflokomotiven transportierten Menschen und Waren übers Land, aber die mechanische Energie blieb bis zur Nutzung der Elektrizität trotzdem ein rares und örtlich beschränktes Gut – insbesondere in Ländern, welche nicht über eigene Kohle verfügten
Während Jahrhunderten wurden Mühlen und Sägewerke dort gebaut, wo es Wasser gab. Dorthin mussten die Bauern ihr Korn bringen, dort wurden Bretter und Balken für den Bau von Häusern gefertigt. Als man zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Wasserkraft in grösserem Masse auch für industrielle Zwecke zu nutzen begann, zum Beispiel zum Spinnen und zur Fabrikation von Textilien, entstanden erste Fabriken dort, wo es Platz und zugleich viel Wasser gab, etwa im Glarnerland entlang der Linth oder im Tösstal. Aber die besten Standorte waren bald belegt, also musste man auch auf kleinere Flüsse und Bäche ausweichen, wo der Platz für den Bau einer Fabrik oft knapp und das Wasserangebot klein und – je nach Niederschlagsmenge – starken Schwankungen unterworfen ist.
So entstanden im Laufe der Zeit raffinierte Energienutzungssysteme – auch im Zürcher Oberland. Im engen Kemptnertobel zum Beispiel stand in unmittelbarer Nähe der Wasserturbinen kein Platz für eine Fabrik zur Verfügung. Also baute man ab den 1850er Jahren über den Turbinen hohe Türme, an denen vom Wasser angetriebene grosse Räder montiert waren, welche – wie bei einem Skilift – umlaufende Stahlseile antrieben, die zu den am Tobelrand stehenden Webereien von Bäretswil hinaufführten und dort die Maschinen antrieben ...
Links vom Weg holt mich ein seltsames Gebäude aus meinen Träumereien zurück. Es erinnert an eine Pagode. Ich bin, so informiert mich eine Tafel, im einstigen Reich der Fabrikantenfamilie Guyer-Zeller angelangt. In Neuthal oberhalb Bauma hatte Johann Rudolf Guyer im Jahre 1825 eine erste, durch Wasserkraft angetriebene Spinnerei errichtet. Sein Sohn Adolf Guyer-Zeller (1839–1899) baute die Fabrikanlage weiter aus, indem er das Wasser des Wissenbachs und von zwei weiteren Bächen in verschiedenen Weihern sammelte und diese miteinander verband.
Der seltsame Turm diente dazu, im danebenliegenden Fahrenbüelweiher, dem obersten Wasserspeicher des Guyer-Zellerschen Systems, das Wasserniveau und damit die Zufuhr von Wasser zur Turbine der Spinnerei zu regulieren. Der Turm ist nach dem Prinzip kommunizierender Gefässe mit dem Fahrenbüelweiher verbunden. Der im Turm eingebaute höhenverstellbare Schieber bestimmt das Wasserniveau des Weihers. Wird in der Fabrik mehr Energie gebraucht, wird der Schieber abgesenkt, so dass mehr Wasser in den tiefer liegenden Äusseren Weiher und von dort zu den Turbinen der Spinnerei Neuthal fliesst.
Auf dem Guyer-Zeller Weg, der einst vom Fabrikbesitzer als Ort der Erholung für seine Arbeiterinnen und Arbeiter angelegt worden war, folge ich weiter dem Lauf des Wissenbachs. Hier fliesst das Wasser über mehrere Wasserfälle Richtung Tösstal. Unvermittelt erblicke ich zwischen den Bäumen das mächtige Fachwerk eines Bahnviadukts und dahinter das hohe Gebäude der Spinnerei Neuthal.
Tatsächlich war Adolf Guyer-Zeller nicht nur Textilfabrikant, sondern auch Eisenbahnpionier. Er träumte von einer Eisenbahnverbindung zwischen dem Bodensee und dem Gotthard, dessen Kernstück vom Tösstal, unmittelbar an seiner Fabrik in Neuthal vorbei, ins obere Glatttal und an den Zürichsee führen sollte, wo eine Fähre den Anschluss ans linke Seeufer und von dort an die Gotthardbahn hätte vermitteln sollen.
Von den verschiedenen Projekten blieb allerdings am Schluss nur noch die Uerikon-Bauma Bahn (UeBB) übrig. Guyer-Zeller erlebte die Inbetriebnahme der UeBB – im Volksmund spöttisch „Ueberbeinbahn“ genannt – im Jahre 1901 nicht mehr; er starb 1899 an einem Herzleiden. Die UeBB kam über den Rang einer Lokalbahn nie heraus und erlebte ihren fünfzigsten Geburtstag nicht; sie wurde schon 1948 stillgelegt. Die SBB übernahm die Teilstrecke zwischen Hinwil und Bauma, doch im Jahre 1969 wurde auch dort der Bahnbetrieb eingestellt.
Mehr Erfolg hatte der Guyer-Zellersche Pioniergeist mit einem andern Bahnprojekt, der Jungfraubahn. Baubeginn war 1896. Die Fertigstellung der Strecke im Jahre 1912 erlebte Guyer-Zeller ebenfalls nicht mehr. So blieb ihm auch das Wissen um eine nachträgliche Zurückstutzung seines kühnen Planes erspart: Aus technischen und finanziellen Gründen verzichteten seine Nachfolger auf den ursprünglich geplanten Weiterbau vom Jungfraujoch zur Jungfrau.
Doch zurück vom Berner ins Zürcher Oberland. Im ehemaligen Hauptgebäude der Spinnerei Neuthal hat der Verein „Neuthal Textil- und Industrie Kultur“ (NIK) ein Museum eingerichtet, das aus vier Bereichen (Wasserkraft, Spinnerei, Webmaschinensammlung Rüti und Handmaschinenstickerei) besteht. Ein kleiner Zettel am Eingang meldet, das Museum habe in dieser Woche Betriebsferien. Vielleicht ist das gut so. Das Museum gäbe Stoff für weitere Berichte – sparen wir sie auf.
Als ich mich zum Gehen wende, tritt ein Mann aus dem Gebäude, die unangezündete Zigarette schon im Mundwinkel klebend. Er sei Teil einer Forschungsgruppe Laboratoire de l’Institut textile de France (ITF) in Paris, welche an den funktionsfähigen Spinnmaschinen von Neuthal Experimente über die Rückgewinnung von Spinnereiabfällen durchführe. „Ein einzigartiger Ort“, sagt mir bewundernd der Techniker aus Frankreich.
Der restliche Weg nach Bauma ist kurz. Zweimal kreuze ich die Geleise der einstigen UeBB. Sie sind in gutem Zustand, denn seit 1978 befährt im Sommer der Dampfbahn-Verein Zürcher Oberland (DVZO) die Strecke von Hinwil nach Bauma. Das reichhaltige Wagenmaterial des Vereins ist, vor Regen und Schnee geschützt, in einer grossen Halle neben dem Bahnhof Bauma abgestellt. „Brauerei & Felsenkeller Wald“ steht in roter Schrift auf einem der vielen Güterwagen; er trägt die Bezeichnung TTB (Tösstalbahn) Ok 151.
Man kann dem MUSEUM SCHWEIZ nicht entrinnen.