Die ägyptische Bevölkerung wäre die vierte Kraft, doch sie ist offensichtlich geteilt: Die eine Hälfte steht hinter Mursi, die andere fürchtet ihn und neigt den Offizieren und Gerichten zu.
Die Offiziere und die Hohen Richter ziehen am gleichen Strick. Es ist kaum zu erwarten, dass sich dies ändern könnte. Sie haben beide Interessen und Machtpositionen zu verteidigen, die sie ganz oder teilweise verlieren könnten, wenn Mursi in dem Machtringen siegte.
Solange die Offiziere den Schutz der Gerichte geniessen, sind sie nicht auf eine Konfrontation mit dem Präsidenten angewiesen. Sie können sich hinter den Gerichte verschanzen und es ihnen überlassen, die Versuche des Präsidenten, mehr Macht zu erlangen, zurückzuweisen. Dies hat für sie den Vorteil, dass sie als Beschützer der Ordnung, ja des Rechtsstaates auftreten können. Die Gerichte legitimieren die Position der Militärs – und sie „de-legitimieren“ Mursi, sobald er die Militärs angreift.
Macht aufgrund der Ohnmacht der anderen
Die Legitimität der Militärs beruht allerdings nur auf einem gewundenen Konstrukt. Sie haben sich selbst die Macht zugesprochen, obwohl sie diese Macht eigentlich hätten abtreten sollen. Sie hatten selbst versprochen, auf die Macht zu verzichten, sobald ein ägyptischer Präsident gewählt ist. Als Vorwand, um dies doch nicht zu tun, diente ihnen die Auflösung des Parlamentes. Diese erfolgte, nachdem das Verfassungsgericht das Wahlgesetz als verfassungswidrig verurteilt hatte. Auf Grund dieses Wahlgesetzes war das Parlament gewählt worden.
Die Offiziere erklärten, sie übernähmen nun die Vollmachten des Parlamentes. Dies taten sie ohne irgendeine rechtliche Grundlage. Dies war ein zweiter Staatsstreich. Der erste war jener, in dem sie Mubarak absetzten und gleichzeitig "vorübergehend", wie sie erklärten, dessen Macht übernahmen.
Zurückgewiesener Vorstoss Mursis
Als Mursi durch ein präsidiales Dekret das Parlament wieder einberief, zielte das nicht auf das Verfassungsgericht ab, das die Wahl des Parlaments als verfassungswidrig bezeichnete. Mursis Dekret zielte vielmehr auf den Militärrat, der sich an die Stelle des aufgelösten Parlaments setzte. Die Offiziere zogen ihre Wachsoldaten vom Parlament ab und duldeten, dass die Abgeordneten zu einer kurzen Session zusammentraten.
Es war dann das Verfassungsgericht, nicht die Offiziere, das den Präsidenten in seine Schranken wies. Es warnte ihn und erklärte, das Parlament sei zu Recht aufgelöst worden. Die Offiziere erklärten nur, sie erwarteten vom Präsidenten, dass er sich einem Rechtsstaat entsprechend verhalte. Der Präsident akzeptierte die Warnung und erklärte, er habe nicht dem Urteil des Verfassungsgerichts widersprochen, sondern nur der Offiziersjunta, die das Parlament aufgelöst hatte. Doch er gab gleichzeitig in der Hauptfrage nach. Das Parlament trat nur kurz zusammen und hat sich seither still verhalten.
Verzicht auf neue Herausforderung?
Einige der Rechtsberater und Juristen der Muslimbrüder suchten den Präsidenten dazu zu bewegen, das Dekret der Offiziere vom 17. Juni aufzuheben, in dem sich diese an Stelle des Parlamentes setzten und gleich auch noch einige weitere Vollmachten für sich in Beschlag nahmen. Die wichtigsten dieser Zusatzvollmachten sind ein Mitspracherecht bei der Ausarbeitung der kommenden Verfassung sowie bei der Auswahl der Verfassungskommission, falls diese neu bestimmt werden muss. Zu den neuen Vollmachten gehört auch die volle Unabhängigkeit und Selbstbestimmung des militärischen Etablissements gegenüber den zivilen Behörden.
Dieses Dekret steht rechtlich gesehen zweifellos auf noch tönernen Füssen als der Beschluss, das Parlament aufzulösen. Dieser kann sich immerhin auf den verfassungsgerichtlichen Entscheid über das Wahlgesetz stützen. Das Dekret hingegen stützt sich höchstens auf die Behauptung, die Offiziere hätten in jenem Zeitpunkt die Position des Präsidenten eingenommen, da dieser noch nicht gewählt worden war. Sie hätten sich selbst auf Grund der ihnen in jenem Moment noch zustehenden Vollmachten des Präsidenten für die Zukunft weitere Vollmachten zugesprochen, die auf diesem Weg dem neu gewählten Präsidenten entzogen wurden. Doch Mursi hat sich offenbar dafür entschieden, für den Augenblick die Offiziere nicht noch einmal herauszufordern.
Weitere Fragen für die Gerichte
Die Gerichte haben auch eine zweite Offensive der Muslimbrüder zurückgewiesen. Das Oberste Verwaltungsgericht wurde von ihren Juristen angerufen, um darüber zu entscheiden, ob es den Militärs rechtlich zustehe, das Parlament aufzulösen und sich selbst an seine Stelle zu setzen. Das Verwaltungsgericht hat entschieden, dass diese Frage ausserhalb seiner Zuständigkeit liege.
Dies ist ein weiterer Gerichtsentscheid, der die Offiziere stützt. Sie behalten die Vollmachten, die sie sich zugesprochen haben.
Ein dritter Gerichtsentscheid soll erst am 4. September gefällt werden. Bis dahin will das Verwaltungsgericht darüber entscheiden, ob die gegenwärtig bestehende Verfassungskommission, die ihre ersten Arbeiten soeben begonnen hat, wieder aufgelöst werden soll oder nicht. Es gibt Klagen von Gegnern der Muslimbrüder. Die Kläger beschweren sich, wie schon im Falle der ersten Kommission, darüber, dass nicht alle Ägypter in der Kommission angemessen vertreten seien. Schon die erste Kommission wurde aus diesem Grunde aufgelöst. Die Richter gaben den säkularen Parteien recht, die fanden die Muslimbrüder und ihre Verbündeten hätten die Kommission zu stark dominiert. Wenn die zweite Kommission auch aufgelöst wird, haben sich die Militärs das Recht vorbehalten, bei der Zusammensetzung der dritten "mitzuwirken".
Ein Damoklesschwert für die Brüder
Es gibt weiter Klagen vor den Gerichten, die darauf abzielen, die Bruderschaft für illegal zu erklären. Darauf sind die Gerichte bis jetzt nicht eingegangen. Doch sie könnten dies noch tun, sobald es den Richtern oder den Militärs opportun erschiene. Die Klagen beruhen darauf, dass die Bruderschaft vor der Revolution verboten war. Nach ihr wurde sie zugelassen. Doch ob das Verbot je formal aufgehoben wurde, lässt sich bestreiten.
Die säkularen Parteien mit den Militärs
Es sind nicht nur die Militärs und die Gerichte, die als Gegner Mursis und der Bruderschaft wirken. Auch die neuen, der Absicht nach demokratischen Parteien haben sich fast alle gegen ihn gestellt. Nur die Salafisten halten zu ihm und ein kleiner Teil der Revolutionsgruppen. Die säkularen Gruppierungen und die Staatspresse haben sich deutlich gegen ihn gestellt. Sie fürchten offenbar, ein Muslimbruder als Präsident und ein von den Brüdern dominiertes Parlament mit einer von diesen bestimmten Verfassungsversammlung könnten die Weichen endgültig und unwiederbringlich auf einen "muslimischen" Staat hin richten und diesen festschreiben. Und zwar so, dass später kein Richtungswechsel mehr möglich sei. Diese Furcht veranlasst sie, lieber die Militärs zu unterstützen als Mursi. Ganz abgesehen vom persönlichen Ehrgeiz ihrer politischen Führer, die ihre Chancen, in der Zukunft einmal die Regierung zu bilden, nicht zunichte gemacht sehen wollen.
Sie nehmen in Kauf, dass das Militär seine Machtziele weiter verfolgen kann, wenn nur dadurch die Chancen für Mursi verbaut werden, seinerseits ein Regime aufzubauen, von dem er zwar verspricht, es solle ein demokratisches werden - was ihm jedoch seine Rivalen auf der säkularen Seite nicht glauben wollen.
Die freie und die staatliche Presse gegen Mursi
Den säkularen Parteien ist ein grosser Teil jener Presse wohlgesinnt, die nicht dem Staat gehört. Mursi bleibt nur noch die Presse der Muslimbrüder, die nicht besonders entwickelt ist. Die staatliche Presse und das staatliche Fernsehen sowie die Vielfalt der post-revolutionären Blätter der Säkularen sind diskreter oder ausgesprochener Mursi-kritisch.
Keine Regierung, grosse Aufgaben
Mursi hat noch keine Regierung ernannt. Die Zügel der Verwaltung führt weiter die von den Militärs eingesetzte Ganzouri-Regierung. Ihr haben die Muslimbrüder völlige Unfähigkeit nachgesagt. Die Aufgaben, welche die neue Regierung zu bewältigen hätte, sind herkulisch. Wirtschaftlich steht das Land dem Abgrund nahe; die Sicherheit ist nicht mehr gewährleistet; die Polizei müsste dringend reformiert und gesäubert werden. Die Korruption müsste bekämpft werden; die Arbeitslosigkeit hat seit der Revolution weiter zugenommen; die Preise steigen; die Zinsen der Staatsanleihen haben 16 Prozent erreicht; die Erwartungen der Bevölkerung sind ihrerseits gewaltig gestiegen. Ein grosser Streik der riesigen Textilfabriken in Mahalla al-Kubra hat soeben begonnen. Ob ein Streikrecht besteht oder nicht, ist, wie so viele andere rechtliche Fragen, ungewiss.
Die alten, autoritären Regelungen sind durch die Revolution verwässert bis aufgehoben, aber neue fehlen, und es gibt kein Parlament, das sie aufstellen könnte. Die Offiziere pochen darauf, neue Regelungen festzulegen. Doch bisher haben die Militärs gezeigt, dass sie mehr improvisieren als durchdacht reglementieren.
Bis jetzt: ein Zeremonialpräsident
Mursi erfüllt zunächst die zeremonialen Aufgaben des Präsidenten. Er macht Staatsbesuche in Saudi-Arabien und in Afrika, empfängt Staatschefs und Frau Clinton in Kairo. Dies dient dazu, sein Prestige als Staatschef zu festigen. Doch es bringt das Land nicht voran und tut nichts zur Förderung der Demokratisierung. Mursi und die Bruderschaft sind im Zeichen von "Freiheit und Gerechtigkeit" angetreten. So heisst ihre Partei. Doch sie scheint, gehemmt von allen Seiten, gegenwärtig kaum in der Lage, Freiheit und Gerechtigkeit wirksam zu fördern.