Es ist ein Monat her, seit Indiens Bürger unter einem Lockdown leben. Statt sie einzusperren, hat der verordnete Stillstand mehrere zehn Millionen Menschen auf die Landstrassen getrieben. Sie hatten keine Wahl. Sie haben entweder mit dem Jobverlust auch ihr Wohnrecht eingebüsst; oder sie wussten, dass sie ohne Einkommen und Reserven auch in einer eigenen Behausung wenig Überlebenschancen haben.
Zumindest ist das Dorf selbst für Landlose ein Umfeld, in dem sie gelernt haben, mit minimalen Ressourcen über die Runden zu kommen. Die meisten wissen wohl, wie klein ihre Chancen sind. Schliesslich waren sie in die Städte emigriert, weil ihr Überleben im Dorf nicht mehr gesichert war. Der einzige Unterschied zwischen Dorf und Slum ist die Hoffnung, dass die sozialen Netze von Kaste und Verwandtschaft zuhause enger geknüpft sind.
Mit der Angst um Ansteckungsgefahr drohen allerdings auch diese, das zeigen zahlreiche Erfahrungsberichte, zu reissen. Selbst die berechtigte Annahme, wonach ein Grossteil der Menschen auf der Flucht mit dem Virus nie in Kontakt gekommen sind, hilft wenig dagegen.
Nicht dem Diktat der Zentralregierung unterworfen
In den indischen Megastädten, namentlich Mumbai und Delhi mit ihren insgesamt dreissig Millionen Einwohnern, hat die Massenflucht etwas Druck weggenommen, so zynisch diese Folgerung klingen mag. Beide verfügen zudem über ein Gesundheitssystem, das besser ist als das der meisten anderen Bundesstaaten, mit Ausnahme von Kerala und Tamil Nadu im Süden des Landes.
Die grösste Herausforderung ist die demografische Ballung, und dies im Zeichen der vollständigen Lähmung der Transportinfrastruktur durch den Lockdown. Doch wenn Indien in einem Bereich Weltspitze ist, dann ist es in der Fähigkeit, im Krisenfall mit grossen Zahlen von Menschen umzugehen – vorausgesetzt der politische Wille ist gegeben. (Eine paradoxe Voraussetzung für gutes Gross-Krisen-Management ist zudem die fatale Einstellung, eine kritische Situation zu einem Ernstfall anwachsen zu lassen, bevor man tätig wird.)
Im Fall sowohl von Mumbai wie Delhi ist der politische Wille gegeben, weil dort neugewählte Regierungen tätig sind, die zudem nicht der BJP angehören. Sie sind damit auch nicht dem Diktat der Zentralregierung und ihrer Ideologen unterworfen. Zudem ist das Gesundheitssystem Sache der Bundesländer, im Fall der grossen Metropolen zudem der Gemeindeverwaltungen.
Riesige Personalbestände
Wie gross in der jüngsten Krise die Herausforderungen sind, lässt sich an der Personalstärke ablesen, über die der Direktor des Covid-19-Einsatzes verfügt: es sind über 200’000 temporär angestellte Health Workers, dazu die regulären Pfleger, Ärzte, Spitalpersonal, die lokalen Sanitärkorps, Strassenarbeiter, Schullehrer, Transport- und Reinigungspersonal, sowie mehrere zehntausend Freiwillige, die gegen Bezahlung arbeiten.
Dazu kommen über eintausend zusätzliche Daten-Spezialisten und -analytiker, die von privaten Firmen den verwaltungseigenen IT-Abteilungen zur Verfügung gestellt wurden. Alle folgen einem speziellen Covid-19-Arbeitsplan, mit vierzehn Tagen Einsatz, gefolgt von vierzehn Tagen Urlaub.
Der Grund liegt auch darin, dass viele Arbeiter am untersten Ende der Lohnskala stehen und in den entlegenen Nordbezirken von Mumbai wohnen. Selbst wenn die Züge fahren, beträgt der Arbeitsweg oft zwei Stunden. Nun aber verkehren weder Busse noch Züge, sodass viele der leeren Schulgebäude als Schlaflager für die Covid-19-Einsatztruppe eingerichtet werden konnten.
Flächendeckende Quarantäne
Indien hat inzwischen etwas über 400’000 Tests durchgeführt, mit rund 25’000 Infektionsfällen. Ein Fünftel der Tests wurden allein in den beiden Metropolen durchgeführt. In Mumbai waren es bis zum 19. April knapp 50’000, mit steigender Frequenz (allein am Tag davor waren es 6’448 Tests gewesen). Das ist einer der Gründe, warum die Zahl der Corona-Erkrankten dort seit Beginn der Epidemie auf rund 4’500 Personen gestiegen ist – nur in den beiden weitaus bevölkerungsreicheren Bundesstaaten Tamil Nadu und Rajasthan liegt sie höher.
In einer Zoom-Präsentation gab der Einsatzleiter, ein Arzt (und Beamter) namens Praveen Pardesi am 19. April einen informativen Überblick über die Situation in Mumbai und die Tätigkeit seiner Behörde.
Die flächendeckende Quarantäne vom 24. März schuf die Voraussetzung für das Hochfahren der Tests. Der grosse Personaleinsatz mit zahllosen ausschwärmenden Teams zur Identifikation von Verdachtsfällen führte rasch zur Feststellung von Hotspots. Nahezu 400 Wohn-Clusters wurden zu Containment Zones erklärt: Wohnsiedlungen, dichtbesiedelte Strassenzüge innerhalb von Slum-Quartieren, grosse Häuserblocks, aber auch die sieben Spitäler (von insgesamt rund dreissig Corona-Spitälern), in denen das Virus Personal und Patienten angesteckt hatte.
Sperrzonen mit Nahrungsmitteln versorgt
Auch Mittelklasse-Quartiere mit der Evidenz einer intensiven Reisetätigkeit gehören dazu, oder ethnische Ghettos, wie jene, in denen die muslimische Tablighi-Gemeinschaft stark vertreten ist. Wie ich in früheren Berichten dargelegt habe, war eine Konferenz von Tablighis sowohl in Indien wie in Pakistan mitverantwortlich für die erste Welle von Corona-Infizierungen.
Diese 391 Clusters wurden vollständig abgeriegelt, und die Zugänge mit über 6’000 CCTV-Kameras versehen. Ein ganzes Bürogebäude, von einer Privatfirma zur Verfügung gestellt, dient allein der Beobachtung dieser Bilder. Viele Privatfirmen haben sich bereit erklärt, diese Sperrzonen täglich mit Nahrungsmitteln zu versorge; ebenso verpflegen sie mehrere zehntausend von Dr. Pardesis Gesundheitsarbeitern. (Reiche Unternehmer hätten, so der Einsatzleiter, ihre Privatjets bis nach Südkorea geschickt, um dort Schutzanzüge zu besorgen.)
Enorme Personalressourcen wurden in den Kontrollzonen konzentriert, um von jedem Krankheitsfall als Nullpunkt in ein minutiöses Contact Tracing auszuschwärmen. Pardesi sah am 19.April, rund einen Monat nach Beginn der Operation, erste positive Indizien für den Erfolg dieser Strategie: die Verdoppelungsrate der Fälle dehnte sich von drei Tagen auf neun aus.
Die Krankheit im Erbgut
Die Teams, die zuerst in den Hotspots tätig waren, werden nun sukzessive in benachbarten Quartieren und Slums eingesetzt. Ihre Aufgabe: Statt nur Covid-Fälle zu suchen, sollen sie systematisch Personen ausfindig machen, die wegen bereits bestehender Krankheiten – Krebs (besonders Leukämie), Diabetes, Herz/Kreislauf – akut gefährdet sind. Diese werden registriert und müssen sich nun regelmässig bei Überwachungsstellen melden.
Viele Inder haben die erwähnten Krankheiten bereits im Erbgut. Dies ist laut Dr. Pardesi der Grund, warum über ein Drittel der Todesopfer (in Mumbai waren es bis zum 19. April 138) unter vierzigjährig sind, und die meisten von ihnen Männer. Nur sehr wenige vollständig gesunde Menschen fielen bisher ausschliesslich dem Corona-Virus zum Opfer.
Von den 4’500 in Mumbai registrierten Corona-Fällen werden rund 2’500 in Isolation gehalten; die anderen 2’000 sind in Spitälern untergebracht, rund eintausend von ihnen wurden bereits entlassen. Nur sehr wenige Patienten müssen mit Beatmungsgeräten behandelt werden; meist genügt, so die Auskunft des Einsatzleiters, eine Maske mit Sauerstoffzufuhr.
Der Marathon hat erst begonnen
Diese Angaben klingen einigermassen beruhigend, und der kompetente Auftritt Pardesis in der Zoom-Präsentation stärkte diesen Eindruck (ebenso wie die Information, dass er während Jahren bei der WHO in Genf für den Einsatz bei Erdbeben-Katastrophen verantwortlich war). Allerdings müssten sie journalistisch vor Ort überprüft werden. Es ist dies allerdings eine Aufgabe, die ohne Ansteckungsgefahr kaum zu verantworten ist. In Delhi sollen bisher fast ein Drittel der über 160 TV-Reporter und -techniker am Virus erkrankt sein.
Pardesi war auch ehrlich genug, zuzugeben, dass die Schlacht noch bei weitem nicht gewonnen sei, und dass „der Marathon erst begonnen hat“. Besondere Sorge mache ihm die grosse Zahl von Covid-Erkrankungen bei seinem Personal, was als Eingeständnis gelesen werden kann, dass die Schutzkleidungen bei weitem nicht den Sicherheitsvorschriften genügen.
So grosszügig und oft hingebungsvoll der Arbeitseinsatz vieler Gesundheitsarbeiter ist, er spiegelt auch die oft erlebte seltsame Indifferenz vieler Inder gegenüber Gefahren, selbst lebensgefährdende. Pardesi scheint darin aber auch einen Vorteil zu erkennen. Im Westen, sagte er sinngemäss, habe die Pandemie oft zu Panik geführt, weil sich die Menschen normalerweise so sicher fühlten. „Dort wissen die Menschen nicht, wie es ist, in Ungewissheit zu leben. Bei uns gehört existenzielle Ungewissheit zum Alltag.“