Der indische Premierminister erhält in Washington die Ehre eines Staatsbesuchs. Der Pendelausschlag nach einer langen Unterkühlung markiert die veränderte weltpolitische Rolle Indiens – und die gekonnte Machtprojektion seiner unbestrittenen Führungsfigur.
Grosser Bahnhof für Narendra Modi. Nach sechs Anläufen wird dem indischen Premierminister der erste Staatsbesuch in den USA gewährt, obwohl ein solcher protokollarisch für Staatsoberhäupter reserviert ist. Washington lässt sich dabei nicht lumpen. Gleich viermal trifft Präsident Biden mit Modi zusammen, darunter zu einem offiziellen Bankett im Weissen Haus. Auch der Kongress hat ihn zu einer Rede vor der Versammlung beider Häuser eingeladen.
Mehr Kooperation mit USA, weniger mit Russland
Das ist mehr als Protokollzwang. In dieser Zeit gehäufter globaler Verwerfungen gilt Staatsräson als oberstes Prinzip, und die Regeln zivilen und demokratischen Wohlverhaltens erscheinen in der Agenda nur noch unter den «Varia». Was zählt, sind Verbündete, und gerade die westliche Führungsmacht sucht diese in einem Netz von bi- und multilateralen Verträgen und Institutionen festzubinden.
Nach Jahrzehnten des Beiseitestehens hat Indien unter Narendra Modi den strategischen Nutzen seiner Grösse, seiner geopolitischen Lage und seiner erstarkenden Wirtschaft erkannt und setzt ihn geschickt ein. Wie die USA ist es sich aber auch des Zwangs bewusst, sich gegen die neue Weltmacht China abzusichern. Indiens Diplomatie beginnt anzuerkennen, dass die fünfzigjährige strategische Partnerschaft mit der früheren Weltmacht Russland immer weniger Dividenden einbringt; auch das opportunistische Einkassieren von taktischen Gewinnmitnahmen wie dem Import billigen russischen Erdöls aufgrund des internationalen Sanktionsregimes täuscht nicht darüber hinweg.
Nirgends zeigt sich dies so drastisch wie im Kernbereich solcher Partnerschaften, jener der militärischen Zusammenarbeit. Zwar sind die indischen Streitkräfte noch immer stark von russischen Waffenlieferungen (bzw. ihrer Ersatzteile) abhängig. Aber inzwischen deckt Indien als weltweit grösster Waffenimporteur seinen Bedarf mehrheitlich im Westen und besonders in den USA. Und die weitaus grösste Zahl gemeinsamer Manöver absolvieren die indischen Streitkräfte mit jenen Amerikas.
Dasselbe gilt für die «Dual Use»-Technologien und die wissenschaftliche Zusammenarbeit im Hinblick auf die wachsende strategische Bedeutung der «Cyber Warfare» und «Space Wars». Zunehmend sind diese Verbindungen eingebettet in multilaterale Institutionen. Sie helfen Washington, das auch in Indien immer noch vorhandene «Big Brother»-Syndrom gegen sich zu entschärfen und sich stattdessen vorteilhaft als «Erste unter Gleichgesinnten» zu projizieren.
Hohe Kapital-Investitionen in beiden Richtungen
Nicht weniger als fünfzig solcher ‚«Dialogue Mechanisms» gibt es heute zwischen den beiden Ländern, und Modis Besuch wird diesen ein weiteres Bündel hinzufügen. Die zentrale Rolle spielt dabei die «Quad»-Architektur, der regionale sicherheitspolitische Zusammenschluss der USA mit den asiatischen (und china-kritischen) Mächten Australien, Indien und Japan.
Viele dieser Verbindungen entwickeln wichtige zivile und privatwirtschaftliche Äste, namentlich im Bereich der Umwelt und des Handels. Beispiele sind etwa das bilaterale «Semiconductor Manufacturing Agreement» vom letzten März, oder im multilateralen Bereich das «I2U2», ein vertragliche Zusammenarbeit zwischen den USA, Indien, Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (daher das «U») in den Themenfeldern Wasser, Gesundheit, Transport und Energie.
Der bilaterale Handel erreichte 2022 einen Rekord von 159 Milliarden Dollar, notabene mit einem Exportüberschuss für Indien. Auch die Investitionen laufen in beide Richtungen. Neben den 60 Milliarden Dollar US-Direktinvestitionen in Indien lässt auch der Kapitalfluss indischer Unternehmen in die USA aufmerken – 40 Milliarden Dollar! (Indiens Handel mit China bewegt sich mit 135 Milliarden Dollar im Jahr 2022 ebenfalls in dieser Grössenordnung. Er hat aber den Nachteil, dass Chinas Warenlieferungen dabei schwer übergewichtig sind – sie überschritten letztes Jahr die 100-Milliarden-Dollar-Marke).
«Keine Lektionen» aus Washington
Die US-Regierung hat sich im Vorfeld des Modi-Besuchs bemüht, diese Aspekte des bilateralen Verhältnisses herauszustreichen. Und vor einigen Tagen liess Präsident Biden verlauten, er werde bei seinen Treffen mit Modi «keine Lektionen erteilen». Auch wenn er damit nur «Atmosphärisches» ausdrückt, zeigt es doch den Sinneswandel an, den die demokratische Administration in den letzten zwei Jahren – mit der Verdüsterung des Himmels nach dem Ukraine-Einfall und der russisch-chinesischen Annäherung – vollzogen hat.
Bei seinem letzten Besuch sprach das Weisse Haus die Menschenrechtslage und die Einschränkung demokratischer Grundrechte noch direkt an und Delhi wies die Kritik auffällig scharf zurück. Es dauerte zudem fast zwei Jahre, bis das Aussenministerium in Delhi dem designierten amerikanischen Botschafter Eric Garcetti sein Agrément erteilte; er hatte bei seiner Kandidatenprüfung im Kongress gesagt, als Botschafter werde er auch diese dunklen Seiten der indischen Demokratie zur Sprache bringen.
Allerdings verfügt die amerikanische Aussenpolitik über ein genügend grosses Arsenal an diplomatischen Waffen, um selbst bei einem Schönwetterbesuch die Schattenseiten anklingen zu lassen. Über siebzig Kongressabgeordnete haben Biden in einem Schreiben aufgefordert, die Verletzungen von Menschen- und Zivilrechten zur Sprache zu bringen. Und es ist erst einige Monate her – im Endstadium der Reise-Vorbereitungen –, als das «Office of International Religious FreedomAgrément (eine Dienststelle des «State Department») Indien in seinem Jahresbericht scharf kritisierte.
Delhi reagiert jeweils mit verbaler Schärfe auf diese «Einmischung in innere Angelegenheiten» – ein Leichtes gegenüber einem Land, das selbst beträchtliche Demokratie-Defizite aufweist. Modi kann inzwischen auf einen gefügigen Mediensektor zählen, der auch immer mehr internationale Medien einschliesst; die kürzliche Zensurierung und Inkriminierung selbst eines medialen «Leuchtturms» wie der BBC zeugt davon.
Auch Modi kann diplomatisch schweigen
Der indische Premierminister hat auch dazugelernt. Sowohl in der Innen- wie der Aussenpolitik dosiert er seine eigenen Äusserungen sorgfältig. Er kann gegenüber den anti-muslimischen Exzessen seiner Getreuen ebenso laut schweigen wie bei Themen, die eigentlich nach einem klaren Stellungsbezug rufen. Zu den bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen im östlichen Gliedstaat Manipur hat er sich nie geäussert, vielleicht weil sie die Politik Delhis in ein schiefes Licht bringen.
Auch in der internationalen Arena lehnt sich Modi, selbst wenn er inzwischen omnipräsent ist, nicht zu sehr aus dem Fenster. Genauso wie er zuhause neben seiner Scharfzüngigkeit auch den Landesvater à perfection zu spielen weiss, genauso kann er im Ausland in die Rolle des «Elder Statesman» schlüpfen, dem die tektonischen Verwerfungen der Welt Sorge bereiten.
Er wird sich also hüten, seinen parteipolitischen Sympathien für einen amerikanischen Politiker Ausdruck zu geben, wie er es 2019 gegenüber Trump tat. Auch Präsident Biden wird die Bezeichnung «shaky» nicht mehr in den Mund nehmen, mit der er letztes Jahr Delhis Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine beschrieb.
Einflussreiche indische Diaspora in den USA
Bei einem USA-Besuch schielt Modi auch immer auf die indisch-stämmige Diaspora. Diese besetzt inzwischen den ökonomischen Spitzenrang unter allen ethnischen Gruppen der USA und ist sowohl in den oberen Rängen grosser Unternehmen wie der Politik prominent vertreten. 2019 liess sich Modi noch in einer Sport-Arena in Houston von Tausenden Indo-Amerikanern feiern, Arm in Arm mit Trump. Diesmal begann er seinen USA-Besuch bei der Uno in New York. Dort versenkte er sich zur Feier des Internationalen Yoga-Tags mit Hunderten eingeladener US-Inder in tugendhaften «Asanas».