Die Mehrheit des US-Kongresses hat dem israelischen Premier Benjamin Netanjahu einen begeisterten Empfang bereitet. In Israel wird dessen Rede in Washington DC zum Krieg in Gaza viel kritischer gesehen, da es ihr zwar nicht an Pointen, aber an Substanz mangelte. Auch traumatiserte amerikanische Ärztinnen und Ärzte melden sich zu Wort.
Am 23. Juli starb Lewis H. Lapham (1935–2024), der langjährige Chefredaktor des «Harper’s Magazine», dessen Kolumnen und Essays Zeitgenossen mit jenen von Michel de Montaigne, Mark Twain oder H. L. Mencken verglichen haben. «Was die Leute punkto Medien so ärgert, ist nicht ihre Grobheit oder ihre Dummheit, sondern ihre Scheinheiligkeit», hat Lapham geschrieben.
Der Satz erinnert an die Reaktion einzelner amerikanischer Leitmedien auf die 56-minütige, 52 Mal von Applaus unterbrochene Rede des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am 24. Juli vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses – ein Event, das eher einem lärmigen Wahlkampf-Rally als dem besonnenen Auftritt eines Staatsmanns glich. «Netanjahu hält vor dem Kongress zu Applaus eine kraftvolle Rede zur Verteidigung Israels» titelte die «New York Times» brav und liess kaum Kritik an Netanjahus teils demagogischen, auf jeden Fall aber unwahren Ausführungen anklingen.
Wichtiger als Churchill
Kann sein, dass Berichterstatterinnen und Berichterstatteter der Umstand beindruckt hat, dass kein anderer ausländischer Politiker vor dem US-Kongress so häufig – vier Mal! - hat sprechen dürfen wie «Bibi» Netanjahu. Winston Churchill hat es nur drei Mal geschafft, unter der Kuppel des Kapitols zu reden. Die überparteiliche Einladung des Israeli war auf jeden Fall Ausdruck des engen Verhältnisses, das die USA und Israel verbindet, auch wenn sich einige Demokraten zuvor skeptisch bis abfällig über den Gast aus Jerusalem geäussert hatten.
«Wir haben zusammen einige der raffiniertesten Waffen der Welt entwickelt, um zu helfen, unsere beiden Länder zu beschützen», sagte Netanjahu, der sich unlängst noch beklagt hatte, weil das Pentagon die Lieferung von 2000-Pfund-Bomben an Israel vorübergehend einstellte. Doch laut der Nachrichtenagentur Reuters sind mindestens 14›000 solch tödlicher Waffen an die israelische Armee (IDF) geliefert worden.
«Des Völkermords schuldig»
Israels Premier wusste genau, auf welcher Klaviatur er spielen und mit was für Show-Einlagen er aufwarten musste, um jenen Teil des amerikanischen Publikums zu beeindrucken, für das Politik immer auch Show und Entertainment ist und das dafür gern ein paar Tricks und Täuschungen toleriert. Nur Rashida Tlaib, die demokratische Abgeordnete palästinensischer Abstammung aus Michigan, tat das im Gegensatz zur Mehrheit ihrer verzückten Kolleginnen und Kollegen nicht.
Sie hielt eine Tafel in die Höhe, auf der auf schwarzem Grund in weisser Schrift auf der einen Seite «Kriegsverbrecher» und auf der anderen «Des Völkermords schuldig» stand. Der jüdische Senator Bernie Sanders, der wie laut «Axios» mehr als die Hälfte seiner demokratischen Parteikollegen im Kongress Netanjahus Rede boykottierte, hatte zuvor gesagt, erstmals in der Geschichte Amerikas würde einem Kriegsverbrecher die Ehre erwiesen, vor dem Kongress zu sprechen.
«Zweifelhafte Äusserungen»
Tlaibs eingeladener Gast war keine frenetisch applaudierte befreite israelische Geisel oder kein israelischer Kriegsheld, sondern ein Palästinenser aus Gaza namens Hani Almadhoun, der seit Beginn des Krieges in Gaza nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober mehr als 150 Angehörige seiner Grossfamilie verloren hat.
Ohne einzelne Passagen der Rede Benjamin Netanjahus direkt als Unwahrheiten einzustufen, rang sich die «New York Times» in einem zusätzlichen Bericht immerhin dazu durch, festzustellen, dass einige Äusserungen von Menschenrechtsgruppen «in Zweifel gezogen» würden und andere sich «nicht erhärten oder Kontext vermissen» liessen. So stufte Israels Premier die Anklage des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC), Israel würde die Menschen in Gaza gezielt aushungern, als «blanken Unsinn» ein. Die Replik der Zeitung: «Hilfsorganisationen und die Uno haben gewarnt, dass Hunderttausenden Menschen in Gaza der Hungertod droht und der Küstenstreifen am Rande einer Hungersnot steht.»
«Irans nützliche Idioten»
Netanjahu behauptete weiter, Israel habe aus US-Quellen erfahren, dass der Iran anti-israelische Proteste finanziere und fördere, um in Amerika Unruhe zu stiften. Laut «Times» hat die nationale Geheimdienstdirektorin verlauten lassen, ihren Erkenntnissen zufolge würden Amerikanerinnen und Amerikaner, die an solchen Protesten teilnehmen, in redlicher Absicht ihre Meinung zum Konflikt in Gaza äussern, auch wenn es Fälle von Individuen mit Verbindungen zu Teheran gegeben habe, die an Protestkundgebungen teilgenommen, online zu solchen Demonstrationen aufgerufen und sie finanziell unterstützt hätten. Der Premier selbst nannte die Protestierenden «Irans nützliche Idioten».
Am stärksten aber verstörte wohl Netanjahus Behauptung, der Krieg in Gaza habe anders lautenden Lügen zum Trotz in der Geschichte des Städtekampfs eine der niedersten Raten ziviler Opfer im Vergleich zu getöteten Feinden. In Realität sind in Gaza innert neun Monaten mehr als 39’000 Menschen getötet worden, wobei es schwierig ist, unabhängig festzustellen, wie viele der Opfer Zivilisten und wie viele Kämpfer der Hamas sind. Israel selbst hat im Mai geschätzt, rund 14’000 Kämpfer und 16’000 Zivilisten getötet zu haben.
Kein Waffenstillstand
Mit keinem Wort erwähnte der israelische Premier die Möglichkeit eines Waffenstillstands, auch wenn er kurz «intensive» Verhandlungen zu einer Befreiung der Geiseln erwähnte: «Der Krieg in Gaza könnte morgen zu Ende sein, wenn sich die Hamas ergibt, die Waffen niederlegt und alle Geiseln befreit, aber falls sie das nicht tut, wird Israel kämpfen, bis wir Hamas’ militärische Ressourcen zerstören, ihre Herrschaft in Gaza beenden und alle unsere Geiseln heimbringen.»
Benjamin Netanjahu lobte eine militärische Operation, bei der im Juni vier Geiseln befreit, gleichzeitig aber 274 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet wurden. Er erwähnte auch, er habe bei einem Truppenbesuch in Rafah einen Kommandanten gefragt, wie viele Terroristen die IDF dort getötet hätten. Der Offizier habe ihm eine exakte Antwort gegeben: «1’203». Und wie viele Zivilsten sind umgekommen? «Ministerpräsident, praktisch keine, mit Ausnahme eines einzigen Zwischenfalls, als Bombensplitter ein Waffenlagerlager der Hamas getroffen und unabsichtlich zwei Dutzend Menschen getötet haben.» Und der Grund dafür laut Netanjahu? «Weil Israel die Zivilisten aus der Gefahrenzone gebracht hat, was wir getan haben, obwohl Leute sagten, wie könnten das nicht.»
«Eine groteske Dimension»
Letzten Schätzungen zufolge befinden sich noch 114 israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas, wobei unklar ist, wie viele unter ihnen allenfalls bereits tot sind. Einer Umfrage der israelischen «Channel 12 News» zufolge, die kurz vor dem Abflug Netanjahus nach Washington durchgeführt wurde, glauben zwei Drittel der Israelis, dass eine Rückkehr der Geiseln wichtiger ist als eine Fortsetzung der Kämpfe in Gaza. Ein Detail am Rande: Die Capitol Police verhaftete sieben Angehörige von Geiseln, die es gewagt hatten, im Gebäude gegen Netanjahu zu protestieren.
Schärfer als US-Medien äussern sich Stimmen in Israel zur Rede ihres Ministerpräsidenten. Netanjahu sei nicht nach Washington gegangen, um den Krieg in Gaza zu beenden, sondern um die Mittel zu erhalten, ihn zu verlängern, schreibt in der Tageszeitung «Haaretz» die Kolumnistin Noa Landau: «Eine bis zu einem gewissen Grad groteske Dimension hat Netanjahus politische Reden stets weltweit begleitet. Das übertriebene Selbstbewusstsein, die Clichés, die infantilen Gags und, natürlich, die Wiederholung altbekannter Botschaften, ein Repertoire, das im Grunde dazu dient, die politische Basis zu Hause zu beeindrucken und nicht um, Gott bewahre, etwas Substanzielles und Wertvolles in der internationalen Arena zu bewirken.» KI könnte solche Reden schreiben, deren Kunst darin besteht, Worte ihrer Bedeutung zu berauben: «Er hat ganz bewusst einen Graben zwischen Mr. Netanjahu auf Englisch und Mr. Bibi auf Hebräisch ausgehoben.»
Kein erkennbarer Fortschritt
Die Erfahrung, so Noa Landau, dieses Lügentheater zu sehen, sei grotesker und deprimierender als je zuvor geworden: «Aufgrund unserer Trauer und Verzweiflung ist kein Gramm Zynismus oder Humor mehr in uns, das es etwas leichter machen würde, ihm zuzuhören. Neun Monate nach Ausbruch eines schrecklichen und verzehrenden Krieges – mit Massen Toter, Verwundeter, Entführter und Evakuierter – hat es Netanjahu bis heute nicht geschafft, die gescheiterten politischen und sicherheitsrelevanten Paradigmen zu revidieren, die uns mit grosser Genauigkeit in diese trostlose Situation gebracht haben.»
Währenddessen argumentiert ihr Kollege Gideon Levy in «Haaretz»», Israel verliere, was ihm noch an Menschlichkeit geblieben sei: «Etwas vom Schlimmsten, was der 7. Oktober uns angetan hat, war es, dass wir begonnen haben, unsere Humanität endgültig zu verlieren. Es ist zweifelhaft, ob der Schaden umkehrbar ist. Von nun an zählen allein jüdische Leben. Von nun an können wir den Palästinensern alles antun. Selbst Hunde auf Behinderte hetzen. Kommt uns nicht mit unseren Grausamkeiten, wir sind damit beschäftigt, uns ohne Ende in den Grausamkeiten zu suhlen, die am 7. Oktober an uns begangen worden sind, und mit nichts anderem.»
Eine nicht gestellte Frage
Gideon Levy erwähnt Hunde, weil israelische Soldaten in Gaza einen Vierbeiner auf einen 25-Jährigen mit Down-Syndrom gehetzt haben. Das Tier biss den jungen Mann zu Tode, ohne dass die Bewaffneten eingeschritten, einen Sanitäter oder Arzt gerufen hätten. Sie liessen Mohammed Bhar zurück und erlaubten seiner Familie erst eine Woche später, nach Hause zurückzukehren, um zu sehen, was mit ihrem Sohn geschehen war.
Die Angehörigen fanden nur noch Mohammeds verweste Leiche: «Keiner weiss, wie lange es dauerte, bis er starb, wie schrecklich seine Qualen waren und was ihm durch seinen behinderten Kopf ging.» Die Soldaten, die ihm nicht halfen, gehören einer Einheit an, die für alle Hunde, die im Kampf getötet werden, emotionale und breit publizierte Begräbnisse abhält. Wieso sie den Hund nicht stoppten und den jungen Mann im Stich liessen, schreibt Gideon Levy, sei eine Frage, die in Israel nicht gestellt werde. Von Benjamin Netanjahu schon gar nicht.
Über 90’000 Opfer?
Währenddessen haben am Donnerstag 45 amerikanische Chirurgen, Notfallmediziner und Pflegepersonen Präsident Joe Biden, seiner Frau Jill und Vizepräsidentin Kamala Harris in einem Brief geschrieben, die wahre Zahl der Opfer in Gaza sei grösser als bisher berichtet. Sie fordern, bis zu einem Waffenstillstand die diplomatische und militärische Unterstützung Israels einzustellen: «Wir können die Szenen unerträglicher Grausamkeit nicht vergessen, die gegen Frauen und Kinder gerichtet ist und die wir persönlich erlebt haben.»
Mehrere Unterzeichnende des Schreibens, für Hilfsorganisationen tätig, berichten, sie glaubten, israelische Scharfschützen würden auch auf Kinder schiessen: «Jeder und jede von uns hat täglich Kinder unter zwölf Jahren behandelt, denen in den Kopf geschossen worden war.» In Gaza, schreibt Chirurg Mark Perlmutter, habe er zum ersten Mal das Hirn eines Säuglings in Händen gehalten: «Das erste von vielen.» Es sei wahrscheinlich, so das Fazit der Ärztinnen und Ärzte, dass die Zahl der Opfer bereits höher als 92’000 sei, d. h. erstaunliche 4,2 Prozent der Bevölkerung Gazas ausmache.
Ein direkter Appell
Die Verfasserinnen und Verfasser des Briefes richten einen direkten Appell an die Bidens: «Präsident und Dr. Biden, wir wünschten, Sie könnten die Albträume sehen, die so viele von uns seit unserer Rückkehr plagen: Träume von Kindern, die von unseren Waffen verstümmelt und verletzt wurden, und von ihren untröstlichen Müttern, die uns anflehen, sie zu retten.» Und sie halten schliesslich fest: «Wir wünschten, Sie könnten die Schreie und das Weinen hören, die unser Gewissen uns nicht vergessen lässt. Wir können nicht glauben, dass irgendjemand weiterhin jenes Land bewaffnet, das diese Kinder vorsätzlich tötet, nachdem wir gesehen haben, was wir gesehen haben.»
Das sehen Amerikas Kongressmitglieder anders. In ihrem donnernden Applaus für die Rede «Bibi» Netanjahus mischten sich lautstarke Rufe nach «USA! USA! USA!» Die letzten Worte des Premiers? «Möge Gott Israel segnen. Möge Gott Amerika segnen. Und möge Gott auf ewig die starke Allianz zwischen Israel und Amerika segnen.»