Markus Hinterhäuser, der neue Intendant dieses bedeutendsten Klassik-Festivals, versucht allerdings, auf der Klaviatur der Gerüchteküche zwischen Klatsch und Tratsch und grosser Kunst die richtigen Töne zu finden. Bislang mit Erfolg. Er kennt sich aus auf der Tastatur, schliesslich ist er selbst Pianist. 195 Aufführungen in 41 Tagen an 15 Spielstätten hat er zu verantworten und ein frischer Wind soll die Festspiele gut durchlüften. Die neue Ära startete furios.
Gleich zu Beginn wurde mit einer alten Tradition gebrochen. Nicht die Wiener Philharmoniker – auch in Salzburg seit jeher das etablierte Hausorchester – machten diesmal den Auftakt, sondern die russische Mannschaft von Teodor Currentzis aus Perm: Chor und Orchester von musicAeterna. Und Currentzis selbst ist ebenfalls ein Neuling auf dem Salzburger Parkett. Eine spannende Ausgangslage also.
Bedrohliche Aktualität
«Clemenza di Tito», Mozarts letzte Oper, wird nun als erste in Salzburg gespielt. Neu interpretiert und auf heutige Verhältnisse zugeschnitten, erhält die Fassung plötzlich in Zeiten des Terrors bedrohliche Aktualität. Daneben gibt es eine Szene von atemberaubender Intimität.
Es ist einer jener magischen Momente in der Oper, die man nie mehr vergisst, wenn man das Glück hatte, ihn zu erleben. Der ‘magic moment’, wenn die Zeit stillsteht, kein Atemzug mehr zu hören ist und das gesamte Publikum – ausnahmslos – nur noch gebannt zuhört, mit offenen Ohren, offener Seele, offenem Herzen.
In der zentralen Rolle des Sesto, der zum Attentäter wird, brilliert eine junge Sängerin, Marianne Crebassa. Zusammen mit einem Klarinettisten steht sie allein auf dieser riesigen Bühne der Felsenreitschule in Salzburg und singt die Arie «Parto, parto …» in Mozarts «La Clemenza di Tito». Anschliessend: tosender Applaus …
Mit dieser Rolle hat Marianne Crebassa Publikum und Kritik definitiv im Sturm erobert. Unglaublich, wie sie dasteht auf der fast leeren Bühne, eingekleidet in graue Kampfmontur, kurze Haare, ein Flüchtling, der zum Terroristen wird. «Clemenza di Tito» ist für Marianne Crebassa ebenso zum Triumph geraten wie für Teodor Currentzis, den Dirigenten der Produktion. Schauspielerisch und stimmlich ist sie ein Ereignis.
Am Tag danach
Am Tag nach dem sensationellen Erfolg treffen wir uns im «Triangel», also dort, wo «man» sich trifft, wenn man zum Salzburger Festspiel-Klüngel gehört. Zusammen mit dem Triangel-Wirt warte ich an einem Tisch im Freien auf Marianne Crebassa. Zunächst spazieren Touristen vorbei, wie auf dem Laufsteg. «Von Gschlampert bis Prada sieht man hier alles», kommentiert der Wirt. Dann schlendert eine üppige Blondine im langen Kleid vorüber. Der Wirt holt seine Trillerpfeife und winkt ihr nach: Anna Netrebko, die man in dieser Aufmachung kaum erkannt hätte. Auch sie irgendwas zwischen gschlampert und Prada … «Die Elegantesten sind halt die Italiener», schwärmt der Wirt – und hat schon unrecht … denn jetzt kommt Marianne Crebassa. Nicht mehr als Flüchtling und Terrorist wie in der «Clemenza di Tito», sondern elegant, bildhübsch, mit dunklen Haaren und sorgfältigem Make up. Die Franzosen können’s auch, und die Französinnen erst recht.
Nach der Aufregung der Premiere und der anschliessenden Feier bestellt sie nun Pfefferminztee. Irgendwie muss sie erst mal klarkommen mit der Situation am Tag danach. «So langsam komme ich zur Ruhe», sagt sie. «Fünf Wochen haben wir geprobt und es war auf der emotionalen wie auf der menschlichen Ebene sehr intensiv. Jetzt, nach der Premiere, bin ich etwas entspannter, ruhiger. Und ich habe sogar heute auf der Strasse so viele Reaktionen von Zuschauern bekommen, die mir sagten, wie berührt sie gewesen seien und die mir dankten. Ich bin überwältigt …»
Immer wieder Salzburg
Marianne Crebassa stammt aus Montpellier. Aber Salzburg spielte schon zu Beginn ihrer Karriere eine wichtige Rolle. 2012, unmittelbar nach ihrer Ausbildung, konnte sie unter der Leitung von Mark Minkowski hier in Händels «Tamerlano» auftreten, zwei Jahre später spielte sie, wieder in Salzburg, die Titelrolle in der Uraufführung von Marc-André Dalbavies Oper «Charlotte Salomon». Damit schaffte sie den internationalen Durchbruch. Und nun also Sesto in «Clemenza di Tito», womit sie endgültig zum Star avancierte.
«’Sesto’ ist für mich die dramatischste Mozart-Hosenrolle», sagt sie. «Ich habe schon immer davon geträumt, sie eines Tages zu spielen und nicht nur in Konzerten zu singen. Und dass es nun das erste Mal ausgerechnet hier in Salzburg dazu kam, zudem noch in einer sehr speziellen Produktion … ahhh …!» Marianne Crebassa ist überglücklich. Und mit Hosenrollen kennt sie sich aus. Zum Beispiel mit dem Cherubino. «Aber das ist eine heitere Rolle. Jetzt habe ich bei mir eine etwas dunklere Seite entdeckt. Am Anfang hatte ich ein bisschen Bedenken, denn die Inszenierung fordert viel. Aber dann hatte ich bei den Proben den Eindruck, von so viel Grosszügigkeit, Leidenschaft und Liebe umgeben zu sein, das hat mir geholfen, die Figur des Sesto so dazustellen und mich dabei wohl zu fühlen.»
Am Anfang, als sie begonnen habe, die Rolle einzustudieren, sei ihr vieles an Sesto unklar gewesen, auch, warum er am Schluss Titus tötet. «Hier in dieser Inszenierung ist Sesto jemand, der sehr gelitten hat. Er ist als Flüchtling in einer Grossstadt gelandet, er hat gesehen, wie seine Freunde in Syrien gestorben sind, er hat seine Familie verloren und ist allein mit seiner Schwester geflüchtet, man weiss nicht, ob er mit einem Boot unterwegs war oder zu Fuss, auf jeden Fall ist er zunächst nicht willkommen, bewaffnete Soldaten halten ihn in Schach … er leidet, er ist verlassen und hat das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben. Trauer und Rachegefühl machen seine Tat nachvollziehbar.»
Gerade Frankreich war ja sehr betroffen von Terroranschlägen, auf die «Clemenza di Tito» anspielt. Wie hat sie als Französin sich dabei in dieser Figur des Terroristen gefühlt? «Es hat mich sehr berührt und es war zugleich ein seltsames Gefühl, mich in dieser Rolle zu befinden. Es war aber für mich auch eine gute Lektion in Sachen Anteilnahme und so ist es mir gelungen, Sesto zu verkörpern.»
Abenteuer Currentzis
Für Marianne Crebassa war es auch die erste Zusammenarbeit mit Teodor Currentzis. «Das ist ein Abenteuer … wirklich! Ich hatte natürlich schon von ihm gehört, auch von seinen Ansprüchen und seiner sehr speziellen Sicht auf die Musik. Ich habe mich wirklich gefragt, ob das funktioniert zwischen uns … Er kam dann sehr oft auf die Probe, hat auf alles ein Auge geworfen und als wir die erste Arie des Sesto erarbeitet hatten, war ich total überzeugt. Noch nie hatte ich die Arie auf diese Weise gesungen. Es war eine Herausforderung, er hat mich dazu gebracht, mich immer weiter vorzuwagen, in die Stille, mit der Stimmfärbung, auch beim pianissimo … ich habe die Tendenz, mit voller Stimme zu singen, hier habe ich mir nun erlaubt, mehr Gefühl in den Text zu legen und in die Stille … Wir haben viel darüber diskutiert, ich habe seine Lebensphilosophie kennengelernt, Teodor ist jemand, der viel darüber nachdenkt, was im Leben wichtig ist und was er will. Da hatte ich den Eindruck, dass ich ihm vertrauen kann, und ich denke, er hat auch gespürt, dass er mit mir rechnen kann auf der Bühne.» Das Resultat ist phänomenal.
«Am Anfang wusste ich nicht so recht, woran ich bin», meint sie noch. «Aber jetzt muss ich sagen, ich bin ziemlich fasziniert von ihm, ich mag seine Art, zu dirigieren und er hat eine starke Anziehunsgkraft …»
Starke Kommunikation
Singen ist für Marianne Crebassa eine Art Austausch zwischen dem, was in ihrem Inneren geschieht, und der Aussenwelt. Eine Art Vehikel, das in zwei Richtungen funktioniert. «Das heisst, die Menschen nehmen etwas entgegen, wenn sie einem zuhören, und gleichzeitig geben sie mir etwas zurück. Das ist eine ganz starke Kommunikation.»
Inzwischen hat sie auch ihre erste CD veröffentlicht mit Arien von Mozart, Gluck, Meyerbeer und anderen. Gemeinsam ist ihnen, dass es alles Hosenrollen sind, wie der Sesto, «Oh, Boy», ist folglich der sinnige Titel. Anschliessend an Salzburg geht es gleich weiter an die Scala, nach Brüssel und an die Pariser Oper. Dort wartet wieder eine Hosenrolle auf Marianne Crebassa: der Sesto in «Clemenza di Tito». Aber in einer ganz anderen Inszenierung.
Marianne Crebassa
Salzburger Festspiele
«Clemenza di Tito»
Bis 21.August 2017
CD «Oh, Boy!» Warner Classics ERATO