Als die irakische Armee in Anwesenheit des Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi am Sonntag ihren Sieg über den IS in Mosul feierte, waren die Kämpfe noch nicht ganz zu Ende. Man konnte in der Ferne noch Schüsse vernehmen. Eine letzte Gruppe von überlebenden IS-Kämpfern mit ihren Familien hielt sich am Montagmorgen noch in einem kleinen Gebiet, das nur 40 auf 180 Meter gross gewesen sein soll. Die Zahl der dort Kämpfenden wurde auf einige Dutzend geschätzt. Am Dienstag früh wurden noch immer Schüsse und Explosionen gemeldet.
Eine epochaler Sieg – hoffentlich
Siegesverkündungen, die den nun mit grosser Gewissheit zu erwartenden Erfolg feierten, gab es schon Tage und Wochen zuvor – verständlicherweise, da die blutige Belagerung Mosuls ja über acht Monate gedauert hatte. Der „epochale Sieg“, so einer der irakischen Kommandeure, sei den Opfern der Gefallenen zu verdanken, die für ihn ihr Leben hingegeben hätten.
Ob er dabei auch an die Tausenden von Zivilisten dachte, die unschuldige Opfer der Ereignisse geworden waren, blieb offen. 920‘000 von ihnen verloren Haus oder Wohnung und befinden sich nun in Lagern in der Wüste. Viel Zeit wird vergehen, bis sie wieder in ihre Stadt zurückkehren können – falls überhaupt. Bei den bisher vom IS zurückeroberten Städten Ramadi (befreit am 9. Februar 2016) und Falludscha (befreit am 26. Juni 2016) leben immer noch grosse Teile der früheren Einwohner in Lagern.
Rückeroberung um jeden Preis
Die 920‘000 können sich trotzdem glücklich schätzen. Westmosul hatte einst zwei Millionen Bewohner. Niemand weiss, wo die andere Million geblieben ist. Manche konnten vielleicht in ihren Häusern verbleiben, in Aussenquartieren, die rasch die Hand wechselten. Andere sind möglicherweise zu Verwandten in den umliegenden Dörfern geflohen, bei denen sie Aufnahme fanden. Doch viele sind wahrscheinlich tot. Amnesty International hat am Tag der Siegesfeiern einen Bericht veröffentlicht mit dem Titel „Koste es, was es wolle: Die Katastrophe der Zivilbevölkerung in West-Mosul“.
Darin wird der IS angeklagt, Zivilisten als menschliche Schutzschilder missbraucht zu haben. Es werden Zeugenaussagen zitiert, um dies zu belegen. Doch Amnesty International beschuldigt auch die irakische Armee und die amerikanische Koalition, schwere Waffen mit grossflächiger Wirkung in dicht besiedelten Gebieten eingesetzt zu haben, und zwar ungeachtet der Verpflichtung, zivile Leben zu schonen. Diese Verpflichtung, so unterstreicht Amnesty, bestehe auch dann, wenn die Gegenseite sich nicht daran hält.
Kommt „IS 2“?
General Stephen Townsend, der Oberkommandierende der amerikanischen Luft- und Helfer-Einheiten, die an der Belagerung teilnahmen, warf einen Blick auf die Zukunft. Er sagte der BBC militärisch unverblümt: „Wenn wir vermeiden wollen, dass ein IS Nummer zwei auftaucht, muss die irakische Regierung sich sehr deutlich anders verhalten (als bisher). Sie muss sich nach aussen wenden und Versöhnung mit der sunnitischen Bevölkerung anstreben, so dass diese empfindet, ihre Regierung in Bagdad repräsentiere sie.“
Noch beherrscht IS Nummer eins drei grössere Territorien im Irak:
- Das grösste Gebiet ist Stadt und Bezirk Huweida, etwa 135 km südöstlich von Mosul, angrenzend an die Provinz Kirkuk.
- Die Stadt und das Gebiet um Tel Afar etwa 35 km nordwestlich von Raqqa an der syrischen Grenze sind unter IS-Herrschaft.
- Ebenso von der Stadt Ana das Euphrattal aufwärts bis an die syrische Grenze, wobei dieses Gebiet sich auch jenseits der Grenze auf der syrischen Seite in der Hand des IS befindet. Es reicht über die Provinz Deir az-Zor und den Euphrat aufwärts bis nach dem belagerten und umzingelten Raqqa.
Der IS hat in einem Communiqué erklärt, Mosul sei gefallen, und sein Oberkommando befinde sich nun in Tel Afar. Was voraussehen lässt, dass auch dort noch harte Kämpfe bevorstehen.
Die Politik ist gefordert
Doch das Geschick des Iraks wird nun in erster Linie bestimmt durch die politischen Massnahmen und Entscheidungen inbezug auf die Bevölkerungen und Landesteile, die sich bisher in den Händen des IS befanden. Mosul war immer ein Knotenpunkt, an dem sich die ethnischen und religiösen Gemeinschaften trafen, die den nahöstlichen Raum bestimmen. Kurden und Araber stiessen dort zusammen mit Türken (Tel Afar ist eine turkophone Stadt). Sunniten begegneten Christen, Schiiten, Yeziden und anderen Minderheitsreligionen.
Wer in Mosul die Macht ausübte, regierte bisher auch Bagdad und den Irak. Doch dies ist nicht mehr der Fall. In Bagdad bilden nun die Schiiten die Mehrheit, und seit 1979 (Khomeinys „Revolution“ in Iran) hat sich über mehrere Schritte hinweg eine tiefe Kluft zwischen Schiiten und Sunniten aufgetan:
- Irakisch-iranischer Krieg 1980–1988;
- Saddams Schiitenverfolgung 1991–1995;
- schiitisch-sunnitischer Bürgerkrieg zur Zeit der amerikanischen Besetzung 2006 und 2007;
- politische Sunnitenverfolgung im Irak unter Maleki 2011–2014;
- saudisch-iranische Stellvertreterkriege in Syrien seit 2011 und im Jemen seit 2015.
Die zu überbrückende Kluft
IS Nummer eins hat diese Kluft zu vertiefen geholfen und sie dann instrumentalisiert, um in Mosul sein „Kalifat“ zu gewinnen. Der amerikanische General fordert zu Recht, dass die Regierung von Bagdad Brücken schlage über diesen Graben hinweg, der sich zu einem Abgrund entwickelt hat. Ministerpräsident al-Abadi ist guten Willens, dies zu tun. Doch das irakische Parlament mehrheitlich nicht, oder nur in geringem Masse. Die Mehrzahl seiner Abgeordneten sitzt in diesem Parlament, weil sie Schiiten dazu aufgerufen haben, sie als Schiiten zu wählen und weil sie auf Grund dieser religiösen Bindung gewählt worden sind.
Die schiitische Tendenz hat ihre ausländische Unterstützung aus Iran, und sie verfügt sogar über ihre eigenen Bewaffneten in der Form von schiitischen Milizen, die wiederbelebt und neu ausgehoben wurden, weil der IS vor Bagdad stand. Sie bildeten damals im Sommer 2014 den Schutzwall, den die zusammengebrochene irakische Armee nicht mehr bieten konnte.
Im vergangenen November dann hat das irakische Parlament ein Gesetz verabschiedet, durch das diese Milizen zu staatlichen Körperschaften erklärt worden sind, mit staatlichem Sold, jedoch „vorläufig“ getrennt von der Armee. Ihr eigene Führung behielten sie „vorläufig“ bei, und diese besteht in gewissen Fällen aus kriegserfahrenen Söldnerführern, die – wie einige selbst erklärt haben – dem Herrschenden Gottesgelehrten Irans näher stehen als dem Ministerpräsidenten des Iraks. Ihre politische Ausrichtung und ihre Kriegserfahrung geht zurück auf den irakisch-iranischen Krieg, wo sie selbst und ihre engsten Verwandten auf der Seite Irans gekämpft hatten.
Man muss diese Vorgeschichte erwähnen, weil sie ermessen lässt, wie schwierig der notwendige Brückenschlag für al-Abadi zu werden verspricht.
Wiederaufbau – womit?
Die Möglichkeit von Versöhnung und Neubeginn ist eng verbunden mit materiellen Anforderungen für den Wiederaufbau. Die ersten Schätzungen der Kosten eines Wiederaufbaus der zerstörten Grossstadt Mosul gehen in die Milliarden Dollar. Eine Milliarde für die unentbehrliche Infrastruktur, sagt die Uno. Zehn Milliarden für einen vollen Wiederaufbau in zehn Jahren, schätzen lokale Architekten.
„Wir haben keinen Wiederaufbau-Fonds für Mosul“, erklärt ein Sprecher des State Departements der Washington Times. Doch der Irak hat zurzeit keine Milliarden. Der relativ niedrige Ölpreis bewirkt, dass das Geld, zuvor bei einem doppelt so hohen Preis reichlich vorhanden, gegenwärtig überall fehlt.
Selbstbedienung der Milizen
Solange der Krieg fortdauert, geniesst die Armee unvermeidlich Vorrang vor dem Wiederaufbau. Die schiitischen Bewaffneten werden darauf bestehen, dass auch sie Priorität beanspruchen können. Bei diesen Gruppen ist eine Tendenz zu beobachten, sich selbst zu entlohnen, indem sie Ländereien und Häuser, womöglich ganze Ortschaften, in Besitz nehmen, wo bisher Sunniten lebten und wo es (angebliche) Sympathien mit dem IS zu bestrafen gilt. Das bedeutet natürlich ein weiteres Vertiefen des bereits bestehenden Abgrunds, den die Regierung zu überbrücken gefordert ist.
Die Untersuchungsmethoden, die angewandt werden, um festzustellen, welche der Männer und jungen Leute aus den „befreiten“ Gebieten möglicherweise beim IS mitmachten oder mit ihm sympathisierten, sind höchst fragwürdig. Schläge spielen dabei eine Hauptrolle. Sie können aber auch bis zur lebensgefährdenden Folter gehen.
Die nach wie vor hohe Korruption – deren die irakische Bevölkerung sich durchaus bewusst ist und die sie meistens „der Regierung“ zuschreibt – vermindert darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit, dass ein zügiger Wiederaufbau zustande kommen könnte. Auch sie vertieft die bestehende Spaltung: Sunniten werfen den Schiiten vor, sie trügen Schuld an der bestehenden Misere, und die Schiiten ihrerseits finden leicht Gründe, um das gleiche von den Sunniten zu behaupten.
Neben der Sunniten- die Kurdenfrage
Brücken, oder mindestens begehbare Stege, muss die Regierung auch in der Kurdenfrage bauen. Bisher war das unnötig, weil ein gemeinsamer Feind bestand, den man bekämpfte, der IS. Doch im Verlauf dieser Kämpfe haben die Kurden der autonomen kurdischen Gebiete mit ihren eignen Truppen, den Peschmerga, dem IS Territorien entrissen und in Besitz genommen. Diese gehören nicht zu den offiziell anerkannten drei kurdischen Provinzen, die nach der geltenden irakischen Verfassung ein Recht auf Autonomie besitzen, sondern zu den sogenannten „umstrittenen Territorien“.
Diese neu unter kurdische Herrschaft gelangten Gebiete sind den Autonomieprovinzen vorgelagerte Landesteile, in denen eine Mischbevölkerung lebt, teilweise Araber, teilweise Kurden und gelegentlich auch Turkmenen. Das wichtigste dieser Gebiete ist die Provinz Kirkuk mit ihrer gleichnamigen Hauptstadt. Sie birgt das älteste und immer noch sehr ertragreiche Erdölgebiet des Iraks.
Kriegsbeute der Peschmerga
Die umstrittenen Territorien sind nicht nur darum umstritten, weil dort gegenwärtig zwei oder drei Ethnien zusammenleben. Auch ihre Vergangenheit spielt eine Rolle. Die Kurden weisen darauf hin, dass in diesen Gebieten – und vor allem in Kirkuk – früher kurdische Mehrheiten lebten, die jedoch dadurch reduziert worden sind, dass während Jahrzehnten die arabischen Machthaber in Bagdad dafür sorgten, dass arabische Bevölkerungsgruppen angesiedelt und kurdische vertrieben wurden.
Dies war nicht nur in Jahrzehnten irakischer Herrschaft der Fall, sondern in manchen Fällen schon seit der englischen Mandatsperiode, in der die Kurden von den Briten niedergehalten wurden, also seit knapp hundert Jahren. Die dort angesiedelten Araber sehen ihre Häuser, Dörfer und Ländereien als ihren altangestammten Besitz – den einzigen, über den sie verfügen. Die Peschmerga jedoch sorgen dafür, dass Araber, die vor oder mit dem IS aus ihren Häusern geflohen sind, nach der Rückeroberung durch die Kurden nicht mehr in sie zurückkehren. Manchmal zerstören sie diese Häuser. In anderen Fällen besiedeln sie sie durch Kurden.
Umstrittener Kurdenstaat
Masud Barzani, der Präsident Kurdistans, hat erklärt, er wolle ein Plebiszit über die volle Unabhängigkeit Kurdistans durchführen. Doch nicht alle irakischen Kurden sind damit einverstanden; und Bagdad schon gar nicht. Unklar ist, wer bei dem Plebiszit mitstimmen soll: nur die Kurden der offiziellen Autonomieprovinzen, oder auch die in den neu in Besitz genommenen umstrittenen Territorien?
Die Kritiker des Plebiszitplans finden auch, die richtige Zeit für Unabhängigkeit sei noch nicht gekommen, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. In Kurdistan herrscht Not in der Staatskasse. Beamte und Kämpfer sind in vielen Fällen seit Monaten nicht mehr entlohnt worden, und sie leben vom Schuldenmachen. Eine volle Lostrennung von Bagdad würde die Finanzmisere noch weiter verschärfen. Gegenwärtig haben die irakischen Kurden ein konstitutionell verbrieftes Recht auf ihren Anteil an den staatlichen Erdöleinnahmen. Diesen Anteil hält Bagdad allerdings manchmal zurück, wenn es darum geht, die Kurden zu „disziplinieren“.
Bisher hatten die Kurden im irakischen Parlament leichtes Spiel. Sooft irakische Schiiten sich mit den irakischen Sunniten stritten, bildeten sie das Zünglein an der Waage. Sie hielten zu der Mehrheit der Schiiten, liessen sich aber ihre Loyalität mit politischen Konzessionen bezahlen. Die Kurden haben daher ein Interesse daran, dass ein sunnitisch-schiitischer Ausgleich im Irak nicht so rasch vorwärts kommt.
Schauplatz saudisch-iranischen Ringens
Aussenpolitisch steht der Irak im doppelten Sog: dem der Saudis und dem ihrer Feinde, der Iraner. Seit der Epoche des Regierungschefs Maliki (2011–2014) hatten die Saudis den Irak abgeschrieben. Sie sahen ihn als ein schiitisch gewordenes Land, in dem Iran grossen Einfluss ausübte. Kürzlich scheint Riad jedoch erkannt zu haben, dass es nicht in seinem Interesse liegt, sich Bagdad zum Feind zu machen, zusätzlich zu Teheran, Sanaa, Damaskus, Qatar, Südlibanon, und den eigenen schiitischen und erdölreichen saudischen Landesteilen, die es alle schon sind.
Deshalb besuchte der saudische Aussenminister Bagdad, zum ersten Mal seit 1990, und ein saudischer Botschafter ist nach Bagdad zurückgekehrt. Der vorherige Botschafter war aus dem Irak ausgewiesen worden, weil er sich allzu unfreundlich über die iranische Präsenz im Lande geäussert hatte. Doch diese diplomatische Korrektur kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der schiitische Teil des Iraks, die Mehrheit der Iraker, unter starkem iranischen Einfluss steht. General Qassem Suleimani, Chef der „Quds-Kräfte“, die den Auslandsarm des iranischen Geheimdienstes bilden, befindet sich oft im Irak, offiziell als Berater der pro-iranischen Schiitenmilizen in ihrem Kampf gegen den IS. Der neue saudische Botschafter wird im Auftrag seines Landes versuchen, in Bagdad ein Gegengewicht gegen Suleimani aufzubauen. Den Brückenschlag zwischen Sunniten und Schiiten wird dies nicht fördern.