Die Bestrebungen, die Hamas und den Islamischen Jihad der PLO zu unterstellen und damit ihre verbliebenen militärischen Einheiten faktisch in die Verbände der Palästinensischen Autonomiebehörde einzugliedern, gehen am kommenden Wochenende in Moskau in die nächste Runde.
An dem dort geplanten «interpalästinensischen Treffen» sollen laut TASS zwölf Organisationen der PLO sowie die beiden islamisch-nationalistischen Verbände Hamas und Islamischer Jihad teilnehmen, die in Gaza ihre Hausmacht haben. Die Erwartungen sind hoch, doch der Fatah-Politiker und Ministerpräsident der Autonomiebehörde, Muhammad Schtajjeh, stellte bereits klar, dass die Hamas keine Bedingungen für eine mögliche Integration oder besser Unterordnung stellen dürfe.
Dass Russland als Gastgeber des Treffens auftritt, ist natürlich kein Zufall: Vielmehr ist die Initiative Teil des strategischen Plans Russlands, die Frontlinie zum «Westen» im Nahen Osten auszubauen und bestehende Frontabschnitte zu stabilisieren. Der aussenpolitische Sprecher der Hamas, Musa Abu Marzuq, war bereits im Oktober letzten Jahres vom russischen Aussenminister Lawrow nach Moskau zitiert worden, um über den 07.10. zu berichten. Lawrow hatte schon damals die Unterordnung der Hamas unter die PLO gefordert. Angeblich hatte Lawrows Stellvertreter und Nahost-Beauftragter der russischen Regierung, Michail Bogdanow, die Idee eines innerpalästinensischen Treffens beim 20. Treffen des Waldai-Clubs, das vom 2. bis 5. Oktober, also unmittelbar vor dem 7. Oktober, in Sotschi stattfand, eingebracht.
Innerpalästinensische Initiative
Das russische Regime nutzt damit das Vakuum, das durch den Streit zwischen Israel und den USA über die Zweistaatenlösung entstanden ist. Israels kategorische Ablehnung einer Debatte über die Staatlichkeit Palästinas dient Russland als Hebel, um durch die militärische Intervention in Syrien verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Die PLO hatte nach 1980 im Rahmen einer diplomatischen Offensive versucht, Legitimität im Westen zu gewinnen; ihr teilweiser Erfolg ging auf Kosten der Beziehungen zu Russland, das sein Einfallstor in den Nahen Osten zu schliessen begann.
Gleichzeitig verstärkte sich die ideologische Entfremdung. Bis in die 1980er Jahre war die Schirmherrschaft der UdSSR über die nationalen Befreiungsbewegungen und damit auch über die PLO unbestritten. Mit den ideologischen Umbrüchen zwischen 1985 und 1995 verlor sich jedoch die legitimatorische Grundidee einer «linken» nationalen Befreiung zugunsten einer neuen nationalistischen und wertkonservativen Ausrichtung, die nun mit dem Begriff «Widerstand» markiert wurde.
Konvergenz
Zwei Interessen konvergieren hier: das Interesse Russlands, den Nahen Osten zum Vorfeld seiner imperialen Expansionspolitik zu machen, und das Interesse der PLO, die Hegemonie über die palästinensische Bevölkerung zurückzugewinnen. Dabei kommt Russland zugute, dass die politischen Entscheidungsträger im Westen einem palästinensischen Nationalismus, der sich nicht eindeutig von Hamas und Islamischem Jihad distanziert, insgesamt ablehnend gegenüberstehen und dass der alte Internationalismus der UdSSR in den letzten Jahren zu einem Bündnis rechtsnationalistischer Ideologien mutiert ist und damit auch die Vorstellung, was Widerstand ist, neu interpretiert wurde. Russland hat weder die Hamas noch den Islamischen Jihad als terroristische Organisationen eingestuft.
Widerstand oder Befreiung?
An dieser Stelle muss kurz innegehalten werden. Seit Ende der 1980er Jahre hat sich ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. An die Stelle der «Befreiung» (arabisch «tahrir») trat in der arabischen politischen Sprache der «Widerstand» (arabisch «muqawama»). Dies ist keine begriffliche Neuerung. Schon um 1925 hatten arabische Publizisten in Algerien von «Widerstandsbewegungen» gesprochen. Und selbst die PLO benutzte den Begriff in ihren ersten Publikationen zwischen 1964 und 1966. Auch in der politischen Sprache Nassers und der Baath-Partei war häufig von «Widerstandsbewegungen» die Rede. Nur: Ende der 1980er Jahre verschob sich die Bedeutung von «muqawama»: Aus der Idee der Befreiung in eine neue soziale und politische Ordnung wurde die Idee des Widerstands zur Wiederherstellung einer vergangenen Welt.
Das Wort «Befreiung» wurde nun viel stärker als links und säkularistisch wahrgenommen, während «Widerstand» als Begriff der kulturellen, identitären und ethnischen Opposition erschien. Dieser Prozess spiegelte sich auch in der Verwendung des Begriffs «islamischer Widerstand», der ebenfalls vor hundert Jahren in Algerien geprägt worden war und in den 1960er Jahren von islamisch-nationalistischen Parteien popularisiert wurde. Wiederum war es der Vordenker der ägyptischen Muslimbruderschaft, Sayyid Qutb, der massgeblich zur Islamisierung des Widerstandsbegriffs beitrug. Als Ahmad Yasin 1987/8 die Hamas gründete, machte er sich diese semantische Differenz zunutze, indem er seine «Islamische Widerstandsbewegung» kategorisch von der «Palästinensischen Nationalen Befreiungsbewegung» (Fatah) abgrenzte. Yasin griff damit auf eine Begriffskonstruktion zurück, die islamische Nationalisten in den frühen 1960er Jahren geprägt hatten, um den Mythos von Saladin und seinen Kämpfen gegen die Kreuzfahrer zu charakterisieren.
Russland und die Ideologien des Widerstands
Dieser umgedeutete Widerstandsbegriff fügt sich weit besser in die zeitgenössische russische Propaganda ein als der Begriff der Befreiung. Denn auch in der russischen Sprache erlebt der Begriff «Widerstand» einen regelrechten Boom und verdrängt den Begriff «Befreiung» aus der Geschichte. Je deutlicher sich die russische Herrschaftsideologie in Richtung Ultranationalismus bewegt, desto mehr nähert sie sich den nationalistischen Widerstandsideologien an, die im Nahen Osten bestimmend werden.
Die geopolitische Rückkehr Russlands in den Nahen Osten fand so ihren Widerhall in der Konvergenz politischer Ordnungsvorstellungen. Putins Ideologie wurde auch im Nahen Osten als Legitimationsgewinn für autoritäre Herrschaft gelesen. Seine Expansionspolitik rehabilitierte in den Augen vieler Potentaten den Krieg als politisches Machtmittel. Die ideologische Propagierung einer multipolaren Welt eröffnete ihnen neue Räume zur Durchsetzung hegemonialer Ansprüche. Die russische Verschränkung von staatszentriertem Autoritarismus, nationalistischer Rückwärtsgewandtheit (Retrotopie), radikalem Neoliberalismus und Instrumenten staatlicher Wirtschaftslenkung rechtfertigte entsprechende Praktiken in vielen Ländern des Nahen Ostens. Putins Herrschaft legitimierte damit eine bereits bestehende autoritäre Praxis und schuf einen Begründungszusammenhang, der westlichen Vorstellungen von demokratischer Rechtsstaatlichkeit systematisch entgegenstand. Dabei profitierte Russland in besonderer Weise von seiner sowjetischen Vergangenheit. Denn in der Propagierung einer antiamerikanischen, antiwestlichen multipolaren Welt schien sich der alte Antiimperialismus fortzusetzen. Das heisst, auch sich noch als links verstehende Anhänger alter Befreiungsideologien konnten sich mit der neuen ultranationalistischen Herrschaftsordnung in Russland identifizieren.
Annäherung
Die Konvergenz zeigte sich zunächst in der Annäherung Russlands an das System der Islamischen Republik Iran, die bereits 2008 begonnen hatte. Dabei half natürlich, dass Iran seine geopolitische Lage explizit antiamerikanisch und antiisraelisch begründete. Sie gewann 2014/5 an Dynamik, als die russische Führung im Zuge der Annexion der Krim und der militärischen Operationen in der Ostukraine die Karten auf den Tisch legte und ihre imperialen Restaurationsbestrebungen offenbarte. Dies ging einher mit einer ideologisch motivierten militärischen Intervention im syrischen Krieg an der Seite des Assad-Regimes und einem Militärpakt mit Iran, der bald auch die Achse des islamischen Widerstands einschliessen sollte.
Durch die Anknüpfung an die alte antiimperialistische Tradition sichert sich Russland die Sympathien der alten Befreiungssozialisten, die vor allem in der palästinensischen Diaspora noch Zustimmung finden. Derzeit ist es vor allem das Umfeld der PFLP und ihrer Tarnorganisation, der «Hilfsgemeinschaft» Samidoun, die diesen sowjetnostalgischen Nationalismus pflegen. Auf breitere Zustimmung stösst die russische Propaganda jedoch bei nationalkonservativen Gruppierungen wie der Fatah, der sie tragenden politischen Öffentlichkeit und vor allem im Umfeld der islamisch-religiösen Nationalisten von Hamas und Jihad.
PLO als Mikrokosmos
Für eine mögliche Integration von Hamas und Islamischem Jihad könnte die PLO ihr besonderes institutionelles Profil in die Waagschale werfen. Die PLO versteht sich als Gesamtvertretung aller Palästinenser, also auch der über sieben Millionen Palästinenser in der Diaspora. Selbst wenn Hamas und Islamischer Jihad in Gaza ihre institutionelle Basis verlieren, bleiben sie als Auslandsorganisationen bestehen und könnten nach dem Selbstverständnis der PLO in ihre politischen Strukturen integriert werden. Dies würde Israel als Argument dienen, Verhandlungen mit der PLO kategorisch abzulehnen und nur mit Vertretern der Autonomiebehörde zu interagieren. Andererseits würde diese Dualität es Hamas und Islamischem Jihad erlauben, politisch vertreten zu bleiben, aber aus der Exekutive ausgeschlossen zu werden. Hamas und Islamischer Jihad würden zu national-religiösen Parteien innerhalb der PLO. Die militärischen Strukturen beider Organisationen, die ausserhalb Gazas zum Beispiel in Libanon bestehen, würden in die knapp 80’000 Mann starken Sicherheitsorgane der Autonomiebehörde integriert. Damit verlören beide ihre militärischen Flügel.
Die Schwäche des Westens
Wenn Russland nun die Schirmherrschaft über die PLO übernimmt, hat es mehr als nur einen Fuss in der Tür zum Nahen Osten. Wenn es dem Putin-Regime gelingt, die Hamas und den Islamischen Jihad in die PLO zu integrieren, wird die Autorität Russlands im Nahen Osten weiter wachsen. Eine weitere Machtverschiebung ergibt sich aus der Weigerung Israels, einen palästinensischen Staat zu gründen. Dies stärkt die Bedeutung der PLO und damit implizit auch die Position Russlands im Nahen Osten.
Die Schwäche des Westens besteht darin, dass das Modell der rechtsstaatlichen Demokratie in der PLO beziehungsweise in der palästinensischen Öffentlichkeit keine politische Repräsentation findet. In der PLO fehlt die bürgerliche Mitte ebenso wie ein linksliberales Lager, das analog etwa zu den säkularen Parteien in der israelischen Knesset für eine Neuordnung der Repräsentationsordnung wichtig werden könnte. Hier zeigt sich die Schwäche des «globalen Westens». Es ist ihm nicht gelungen, ein liberal-demokratisches Politikmodell in der palästinensischen Öffentlichkeit prominent zu platzieren und damit einer Zivilgesellschaft die Möglichkeit zu geben, eine politische Alternative zum vorherrschenden völkischen Nationalismus zu formulieren.
Ob Putins Pläne aufgehen und Russland tatsächlich die Rückkehr in den Nahen Osten gelingt, ist derzeit alles andere als sicher. Die Auseinandersetzungen um die Legitimität der palästinensischen Staatsgründung spielen dabei eine Schlüsselrolle. Sollten westliche Initiativen zur Gründung eines solchen Staates scheitern, wird Russland dies propagandistisch als «transatlantische Verschwörung» gegen den «globalen Süden» ausschlachten.