Er habe Hundert Tote gesehen, überall hätten Leichen gelegen, berichtete ein anderer. Von Amnesty International veröffentlichte Satellitenbilder zeigten, dass „einer der Orte in vier Tagen fast komplett von der Landkarte gelöscht wurde“, wie ein AI-Mitarbeiter aus Nigeria berichtete.
Es war einer der tödlichsten Überfälle der radikalislamischen Gruppe Boko Haram gewesen, bei dem am 3. Januar die Stadt Baga im Norden des Landes sowie mindestens 16 umliegende Siedlungen zerstört, bis zu 2000 Menschen, in der Mehrzahl Alte, Frauen und Kinder, ermordet und 20'000 in die Flucht gejagt wurden. Das vormals 10'000 Einwohner zählende Baga ist heute nahezu entvölkert.
"Ein Markt für Mädchen"
„Bring back our girls“, wurde im Mai letzten Jahres zum Schlagwort der gepeinigten Bevölkerung Nigerias, nachdem Boko Haram 300 Mädchen aus der einzigen im Nordosten des Landes noch geöffneten Schule entführt hatte. Viele der Mädchen wurden verkauft, für 12, 15 Dollar. Andere wurden gezwungen, ihre Entführer zu heiraten, und ins benachbarte Kamerun oder in den Tschad verschleppt.
„Nur weil ich ein paar westlich erzogene Mädchen genommen habe, macht nun die ganze Welt ein solches Aufheben“, mokierte sich Abubakar Shekau, der Führer von Boko Haram. „Okay, ich nahm die Mädchen. Mädchen werden verheiratet. Wir sind gegen die westliche Erziehung, und darum sage ich: ‘Schluss mit westlicher Erziehung!‘. Ich wiederhole noch einmal, ich nahm die Mädchen, und ich werde sie verkaufen. Da ist ein Markt für Mädchen.“
al-Qaida Westafrikas?
„Wo immer diese Mädchen jetzt sind, wir werden sie ganz sicher herausholen“, versprach Nigerias Präsident Goodluck Jonathan damals. Doch im selben Interview räumte Jonathan ein, er wisse gar nicht, wo die Mädchen seien. Als wenig später acht weitere Mädchen entführt wurden, gab das Militär in Lagos bekannt, die Mädchen seien gerettet. Doch einen Tag später musste die Armee eingestehen, dass die Mädchen immer noch in der Gewalt der Verbände Shekaus waren. Dafür verhaftete die Polizei zwei Frauen. Die beiden hatten nur kurz zuvor Patience Jonathan besucht, die First Lady des Landes, die ihnen nun vorwarf, die Entführungsgeschichte erfunden zu haben, um die Regierung ihres Mannes in Misskredit zu bringen.
Nach der Entführung der 300 Mädchen bestellten die USA und Frankreich die Staatschefs Nigerias, Nigers, Benins, Kameruns und des Tschad nach Paris ein, wo sie im Beisein von „Beobachtern“ aus den USA und der Europäischen Union Boko Haram den „totalen Krieg“ erklärten. Auf einer Pressekonferenz sah Nigerias Präsident Jonathan das Sicherheitsproblem seines Landes im Kontext des „globalen Kriegs gegen den Terror“, Boko Haram sei keine lokale Terrorgruppe sondern „ein al-Qaida Westafrikas“.
Wirtschaftliches Elend
Auch Frankreichs Präsident François Hollande räumte dem Kampf gegen Boko Haram Priorität ein und versprach einen „globalen und regionalen Aktionsplan. Boko Haram mit seinen bewiesenen Verbindungen zu al-Qaida (al-Qaida im islamischen Maghreb ) und anderen terroristischen Organisationen stellt für ganz Westafrika und auch Zentralafrika eine ernste Bedrohung dar.“ Natürlich haben die fünf Staaten weder die Mittel noch die militärischen Fähigkeiten für einen solchen Aktionsplan. Es ist ein Plan des Westens. Die USA hatten schon zuvor 80 Soldaten im Tschad stationiert, um dort neben den bereits in Niger, Burkina Faso, Äthiopien, Somalia, Dschibuti und auf den Seychellen existierenden Drohnen-Startdepots einen neuen Drohnen-Stützpunkt zu errichten.
Der Westen reagiere wie so oft wieder einmal militärisch auf eine Gefahr, wo eine politische Lösung angebracht wäre, kritisieren afrikanische Kommentatoren. Schon seit Erlangung der Unabhängigkeit plagen militante, islamistische Organisationen und Milizen vor allem den Norden Nigerias. Während der Unabhängigkeitsbestrebungen gründete Scheich Uthman Dan Fodio das Sokoto Kaliphat, mit dem er einen islamischen Staat aufbauen und die Einführung der Scharia erreichen wollte. Schliesslich habe die Regierung den Konflikt aber beilegen können, indem sie mit dem Sultan von Sokoto in einen Dialog getreten sei und jenen Terroristen, die die Waffen niederlegten, Amnestie angeboten habe. In den achtziger Jahren machte eine Maitatsine genannte islamistische Gruppierung mit gewaltsamen Aktionen, mit denen sie eine puristische Form des Islam durchsetzen wollte, im Norden Nigerias von sich reden. Auch andere derart fanatische Gruppen konnte die Regierung neutralisieren. Und Muhammad Sanusi, der Emir von Kanu und ehemalige Zentralbankchef, schrieb den Erfolg von Boko Haram dem wirtschaftlichen Elend und der Marginalisierung des Nordens zu.
Mordende nigerianische Armee
So verstärken sich in Afrika Befürchtungen, dass das westliche Engagement nur zur erneuten Kolonisierung des schwarzen Kontinents führen könnte. „Frankreich hat schon Truppen in den westafrikanischen Staaten Mali, Niger und Zentralafrikanische Republik, die alle ehemals französische Kolonien waren“, merkten afrikanische Zeitungen an, die das wachsende Engagement der USA und der Nato in Afrika misstrauisch beobachten. „Seit 1956 wird die nigerianische Ölindustrie von britischen, amerikanischen und europäischen Firmen dominiert. In den letzten Jahren hat auch die Volksrepublik China Abkommen mit Abuja unterzeichnet, um seine Investitionen in der nigerianischen Ölindustrie zu erhöhen.“
Als Nigerias Armee schliesslich einen Versuch unternahm, gegen Boko Haram vorzugehen, mussten die Menschen erneut fliehen. Diesmal warfen die Flüchtlinge den eigenen Streitkräften vor, bei ihrer Offensive gegen die Verbände Shekaus einen Terrorfeldzug zu führen und berichteten von „rücksichtlosen Bombardements, unerklärten toten Zivilisten, die nichts mit den Islamisten zu tun gehabt hatten, von nächtlichen Verhaftungen junger Männer, von einem Klima des Terrors, der Tausende gezwungen habe, in brütender Hitze durch die harsche Wüstenlandschaft nach Niger zu fliehen.
Ein Staat in vier Staaten
Nigerias Militär ist seit langem bekannt für Willkür und Brutalität. „Sie haben nicht den geringsten Respekt für Menschenrechte, und es überrascht mich nicht, dass nun solche Berichte bekannt werden“, erklärte Omoyele Sowore, ein nigerianischer Journalist, der die online-Zeitung SaharaReporters.com betreibt, in einem Interview. „Tatsächlich wurde Boko Haram erst aufgrund dieser Willkür so tödlich. Diese Islamisten wurden erst wirklich mörderisch, nachdem die nigerianische Regierung 2009 begann, ihre Führer zu ermorden. Die nigerianische Regierung beging Massenmord an einer vermutlich fanatischen aber friedlichen Gruppe, die an ihren Schulen einen ihrer Auffassung nach reinen Islam predigten. Erst nachdem die Polizei ihre Führer umgebracht hatte, wurde Boko Haram zum grossen Problem für Nigeria und die Nigerianer.“
Inzwischen ist Boko Haram zu einem Staat nicht nur in Nigeria sondern in vier Staaten herangewachsen: in Nigeria, Kamerun, Tschad und Niger. Schon im letzten Jahr unternahm ihre Kämpfer Operationen in den Nachbarländern. So stürmten Verbände von Boko Haram in Kamerun eine Kaserne der Armee und befreiten einen ihrer Führer. Bei ihren Angriffen gehen die Islamisten zunehmend dreister vor. Sie filmen ihre Angriffe und stellen die Videos ins Internet.
Korruptes Nigeria
Auf seiner Internetseite beklagt Omoyele Sowore seit langem die Korruption in seinem Land. Nigeria sei zu korrupt, als dass „irgendetwas getan werde könne“. So wurde letztes Jahr etwa Muhammad Sanusi gefeuert, der Chef der Zentralbank, weil er enthüllt hatte, dass die Nigerianische Nationale Petroleum-Gesellschaft fünfzig Milliarden Dollar gestohlen habe. „In den letzten 50 Jahren wurde Nigeria geplündert, Nigerias Elite hat über 500 Milliarden gestohlen, um Luxusgüter wie weitläufige Villen oder Privatjets zu kaufen.“ Armeegeneräle hätten das Geld eingesteckt, für das eigentlich Waffen gekauft und Soldaten bezahlt werden sollten, um Boko Haram zu bekämpfen. „Wir haben Fotos bekommen, die Soldaten zeigen, die im Einsatz kein Trinkwasser, nicht ausreichend Nahrung und keine Schlafmatten dabei haben. Boko Haram ist motivierter und besser ausgerüstet als die nigerianische Armee und die nigerianische Polizei.“
Im Februar wird Nigeria einen neuen Präsidenten wählen. Präsident Jonathans stärkster Herausforderer, der 71-jährige General Muhammadu Buhari vom All Progressives Congress (APC), ein Muslim aus dem Norden und ehemaliger Militärdiktator (1983-1985), versprach, wieder Frieden in die Region zu bringen. Allerdings liess er offen, wie er das erreichen will.