Jede Wahl – und es gibt deren viele in Indien – ist für Modi eine Gelegenheit, seine Siegesrezept zu verfeinern. Beim jüngsten Wahlsieg war es fast schon perfekt.
Am vergangenen Freitagmorgen war Premierminister Narendra Modi auf Wahlkampf in Gujerat. Das ist an sich nichts Besonderes – ausser zwei Details. Es war der Morgen nach einem weiteren grossen BJP-Sieg bei fünf Regionalwahlen. Eine nächste solche Wahl in Gujerat steht erst in einigen Monaten an – aber Modi konnte es nicht lassen, sich ins Getümmel zu stürzen, seine scharfzüngige Rhetorik in Fluss zu halten, Anlauf zu nehmen für einen weiteren Wahlsieg. Dagegen schienen globale Probleme wie der Ukraine-Krieg zu Nebensächlichkeiten zu schrumpfen.
Das zweite Detail war die Kopfbedeckung, für Modi ein beliebtes Kleidungsstück, mit dem er politische Signale setzt. Diesmal trug er das berühmte Baumwoll-Schiffchen, das Mahatma Gandhi für den Unabhängigkeitskampf als Markenzeichen der Kongresspartei entworfen hatte.
Auf Modis Haupt war es aber nicht weiss, sondern rot – ausgerechnet die Farbe, mit der im soeben abgeschlossenen Wahlkampf der unterlegene Regionalpolitiker Akhilesh Yadav und seine Wahlhelfer mit dem gleichen Kepi Flagge zeigten. Es war eine Verhöhnung und eine Kampfansage zugleich: «Passt auf, Rahul Gandhi und Yadav! Ich hole mir Eure Wähler!»
Rhetorische Brillanz
Die schiere Kampflust und die rhetorische Brillanz des passionierten Wahlkämpfers Modi sind nicht die einzigen Giftpfeile, die heute jeden indischen Oppositionspolitiker das Fürchten lehren. Es ist auch die Klarheit der Botschaften, die straffe Organisation und die volle Kriegskasse der BJP – in ihrer letzten Steuerdeklaration wies sie ein Vermögen von 45 Milliarden Rupien (ca. 550 Mio. CHF) aus.
Der jüngste Wahlsieg spricht für sich: Die BJP gewann vier der fünf Gliedstatten. Diese vier waren von ihr regiert worden. Es gehört bei Regionalwahlen zum guten Ton, dass man der üblichen Misswirtschaft der Regierungspartei mit einer Abwahl eine Abfuhr gibt. Dies geschah nicht – im Gegenteil: Die BJP gewann mit einem deutlichen Vorsprung im Verhältnis von 2:1 Stimmen. In Uttar Pradesh und Uttarakhand gelang eine Wiederholungswahl einer Regierungspartei zum ersten Mal in 37 Jahren.
Zufällig fand diese Regionalwahl in Bundesstaaten statt, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Vom grössten Bundesstaat Uttar Pradesh (200 Mio. Einwohner) bis zu Goa (2 Mio.); von dieser ehemaligen Kolonie im Westen zum Stammesstaat Manipur an der Grenze zu Myanmar; zwischen dem von Sikhs dominierten Panjab zu den mehrheitlich christlichen Regionen Goa und Manipur. (Zu Uttar Pradesh, könnte man hinzufügen mit seinen achtzig Prozent Hindus und 20 Prozent Muslimen).
Toiletten und Kochgas
Noch erstaunlicher war der Sieg, wenn man den Erfolgsausweis der BJP in Delhi und den Provinzkapitalen ansieht: Die Bekämpfung der Pandemie war brutal und, betrachtet man die Ansteckungs- und Todeszahlen, wenig wirksam. Die Arbeitslosigkeit hat sich sprunghaft erhöht. Das politische Klima ist vergiftet, namentlich im Parlament und zwischen Zentralregierung und den Gliedstaaten. Die Beziehungen mit den Nachbarländern – namentlich China und Pakistan – haben sich auf einem Tiefstand festgefahren.
Dies scheint das Kult-Image des Premierministers nicht einmal anzukratzen. Das Publikum scheint umso stärker auf seine Führungsrolle zu zählen, je schlechter die Dinge stehen. Es wäre aber falsch, das Wahlverhalten auf diesen einen Faktor zu reduzieren. Auch Modi weiss, dass in einem armen Land, dessen Mehrheit der Armut – 75 Jahre nach der Unabhängigkeit – noch nicht entkommen ist, ökonomische Faktoren mitentscheidend sind.
Bereits in seiner ersten Amtszeit hat er eine Reihe von Programmen lanciert, die wenig spektakulär sind, dafür aber Tiefenwirkung zeigen. Zusätzlich zur Einführung von Toiletten kamen Anschlüsse für Kochgas und subventionierte Gaskanister, Wasserhähne in den Wohnstätten, sowie eine Verbesserung der Logistik für die Abgabe von Grundnahrungsmitteln. Diese wurde im Anschluss an die Covid-Katastrophe zudem grosszügig ausgeweitet, mit zehn Gratis-Kilogramm Reis oder Weizen plus 1 kg Linsen pro Monat/Person.
Aufwertung der Frauen
Zwei weitere Eingriffe sorgten dafür, dass auch eine Breitenwirkung entstand. Einerseits werden die Programme monetisiert, d. h. über Direkttransfers in Bargeld abgewickelt. Die Banken sind angewiesen, jedem Haushalt ein Bankkonto zu eröffnen. Dieses soll zudem wenn immer möglich im Namen der Frau des Haushalts eingetragen werden. Mit dieser simplen administrativen Massnahme verhalf der Premierministet den Frauen zu mehr Autonomie und einer Statusverbesserung in Familie und Dorfgemeinschaft.
Sie dankten es ihm beim jüngsten Wahlgang. Nicht nur kamen in mehreren Staaten mehr Frauen als Männer an die Urnen; die Zahl der BJP-Wählerinnen stach jene der Männer ebenfalls aus. In seiner Siegesrede am letzten Freitag dankte Modi ausdrücklich den Frauen für ihr Vertrauen und gelobte, diese Programme zu einem der beiden Kernziele seiner Politik zu machen.
Wie in anderen Politikbereichen war es nicht der Inhalt der Massnahmen, die Modi von jenen der vergangenen Kongress-Regierungen unterschied, sondern deren clevere Verpackung. Er griff dafür zu einem Begriff, «Kabharthi», der nun zweifellos als neue Kategorie im politischen Diskurs Eingang finden wird. Er bedeutet ungefähr «Begünstigter» (engl. beneficiary), deckt also das ab, was im deutschen Sprachraum als «Wohlfahrtsstaat» umschrieben wird.
«Kabharthi»
Fünfzig Prozent der indischen Bevölkerung, rund 700 Millionen, sollen in den Genuss dieser Dienstleistungen kommen (ein indirektes Eingeständnis, wie schlecht es um die «Wohlfahrt» des Landes bestellt ist). Bei der zweiten Massnahme sprach Modi das Kernproblem an, das diese ökonomische Misere erklärt: Die strukturelle Arbeitslosigkeit. Ein neues Programm richtet sich an die junge Generation, die trotz Schulbildung immer mehr Mühe hat, an Jobs zu kommen.
Der Ausdruck «Begünstigter» ist aber weniger bürokratisch-harmlos, als er erscheint. Einerseits reduziert er im Ansatz (und vielleicht wenig bewusst) den Bürger zum Mündel von Vater Staat. Sehr bewusst ist aber die zweite Funktion von «Kabharthi»: Der neue Oberbegriff soll die vielen anderen sozialen Identitätsmuster Indiens neutralisieren, allen voran jene von Kaste und Region. Damit könnte er der BJP helfen, ihren Ruf als Partei hochkastiger Nordinder endgültig loszuwerden – so wie Modi es in dieser Regionalwahl vorgeführt hat. Der BJP-Sieg in so unterschiedlichen Staaten demonstriert, dass sie nun auch tiefrangige Kasten und Dalits anzieht.
Es war symptomatisch, dass der Wahlsieger im fünften Staat – Panjab – einem ähnlichen politischen Ansatz folgt. Die AAP («Partei des gewöhnlichen Manns») hat sich in ihrer bisher einzigen Hochburg, dem Stadtstaat Delhi, erfolgreich für bessere Sozialleistungen eingesetzt. Mit ähnlichen Versprechen hat sie nun im Nachbarstaat Panjab alle Widersacher vom Platz gefegt: die Kongresspartei ebenso wie die religiöse Sikh-Partei Akali Dal. Der Akali Dal ist Koalitionspartner der BJP, so dass diese höchstens indirekt als Verliererin dasteht.
Mit Säkularimsus macht man keinen Straat mehr
Bedeutet der neue «welfarism» von Narendra Modi, dass die BJP auf das identitätsstiftende Feindbild der Hindu-Nationalisten – den Muslim-Hass – verzichten kann? Keineswegs. Weiter oben sprach ich von Uttar Pradesh als dem Staat mit «achtzig Prozent Hindus und zwanzig Prozent Muslimen». Das ist mehr als ein statistischer Befund. Ein Wahlspruch des Chefministers von «UP», Yogi Adityanand – dem zweiten BJP-Aushängeschild neben Modi – lautete: «Dies ist eine Achtzig/Zwanzig-Wahl». Will sagen: «Wenn die achtzig Prozent Hindus zusammenstehen, können wir diese paar Wichte zur Bedeutungslosigkeit verdammen.»
Die fünf Jahre Regierungszeit von Yogi waren von dieser Agenda durchsetzt. Der Law&Order-Mann sah in der Landspekulation nur muslimische Mafias am Werk; friedliche Bürgerrechtsproteste waren von Pakistan gesteuert; der Viehhandel diente verbotenen Kuhschlachtungen; religiös gemischte Studentengruppen an den Unis mussten mit Polizeigewalt aufgebrochen werden, da sie lediglich der «Love Jihad» dienten.
Es waren also zwei Diskurse am Werk, und sie fanden nicht selten bei gemeinsamen Wahlveranstaltungen statt. Das Publikum schien dies nicht zu stören – man war ja unter sich. Und was vielleicht noch verstörender war bei dieser Wahl: Auch die im Panjab siegreiche AAP schien sich an den gewöhnlichen (Hindu-)Mann zu richten. In Delhi hat sie sich einen Namen gemacht mit Erziehungs- und Bildungspolitik; und dem Vermeiden jedes politischen Stellungsbezugs im Religionskonflikt – «Hindutva light». Mit Säkularismus macht man in Indien buchstäblich keinen Staat mehr.