Indiens Strassen hören nicht auf, eine Bühne für Fluchtbewegungen und Güterströme zu sein, für Blockaden und Warteschlangen, Proteste und Polizeiaufmärsche. Sie bilden einen paradoxen Kontrast zum Bild des formellen demokratischen Prozesses. Dieser ist geprägt von komfortablen Regierungsmehrheiten, von hohen Popularitätswerten des Regierungschefs und einer zunehmenden Gleichschaltung der Medien.
Gehorsamsstarre und Aufruhr
Seit 2016, in der ersten Amtszeit von Narendra Modi, laufen beide Strömungen erstmals gegeneinander. Im November jenes Jahres hatte Modi 86 Prozent des flüssigen Geldes über Nacht wertlos gemacht. Dies zwang Dutzende Millionen Menschen auf die Strasse, wo sie vor Bankfilialen anstanden, um ihre Banknoten abzugeben, in der oft vergeblichen Hoffnung auf Gutschrift in ihrem Konto. Besassen sie – die grosse Mehrheit – eine Barschaft, mussten sie diese an clevere Händler verramschen.
Kein Jahr später standen die gleichen Menschen im grössten und ärmsten Bundesstaat Uttar Pradesh vor den Urnen Schlange, um Modi ihre Stimme zu geben. Wiederum zwei Jahre später dasselbe Schauspiel: Modis BJP gewann mit einer Zweidrittelmehrheit die Parlamentswahlen. Doch nur ein halbes Jahr später waren die Strassen voll von Protestbürgern. Mit Märschen und monatelangen Sit-ins demonstrierten sie gegen ein neues und diskriminatorisches Bürgerrechtsgesetz.
Dann kam die Pandemie. Einmal mehr füllten sich die Strassen mit Menschen, diesmal beladen nicht mit Bannern, sondern ihren Habseligkeiten und Kindern, die noch nicht laufen konnten. Wieder hatte der Premierminister mit einer imperialen Geste das Land in eine Gehorsamsstarre versetzt – eine Starre, die sich in Flucht und Auflösung verwandelte. Doch dann waren es einmal mehr die Wählerschlangen in mehreren Bundesstaaten, die in Nachwahlen dem weisen Steuermann ihr Vertrauen aussprachen.
Welcher Populist würde dieses Verhalten nicht als Aufforderung lesen, seine autokratischen Instinkte weiter auszuleben? Was kümmerte es ihn, dass die martialische Demonetisierung zum Zweck der Korruptionsbekämpfung das Gegenteil bewirkt hatte; oder dass sein Bürgerrechtsgesetz 200 Millionen Muslime in die Hände radikaler Prediger zu treiben drohte?
Gesetze im Handstreich
Wurde die Pandemie zum Weckruf für einen nationalen Schulterschluss? Mitnichten. Der erzwungene Verlust von Öffentlichkeit – leere Parlamentskammern, geschlossene Gerichtsgebäude, eine mediale Corona-Fixierung – wurde genutzt, um neue Verhältnisse zu schaffen. Mit einem Streich (und der parlamentarischen Zweidrittelmehrheit) wurde das Land mit einem Schwall neuer Gesetze gesegnet.
In den 24 Stunden zwischen Ankündigung und Inkraftsetzung hatte das Land ein neues Bildungsgesetz; ebenso rasch wurden 44 Arbeitsgesetze auf drei eingedampft und massiv geändert. Alles ging glatt über die Bühne – warum also nicht die fünfzigjährigen Landwirtschaftsgesetze durch zeitgemässe ersetzen?
Das neue Bildungsgesetz war schon geschluckt, als sich zeigte, dass sich hinter den schönen Worten von holistic Development, Empowerment und ähnlichen NewAge-Floskeln eine Zentralisierung der Lerninhalte und -ziele verbarg. Sie wird es den Hindu-Nationalisten erlauben, in Zukunft ihre religiöse gefärbte Ideologie in den Geschichts- und Staatskundeunterricht einfliessen zu lassen.
Ähnlich erging es den Arbeitsgesetzen. Bereits im Mai hatten verschiedene Bundesstaaten mit BJP-Regierungen die bestehenden Arbeitsgesetze suspendiert. Der Vorwand lautete: Vorschriften über Anstellung und Entlassung, Mindestlohn, Sicherheit und Gesundheit seien angesichts der Corona-bedingten Verwerfungen nicht zumutbar.
Die Proteste der Gewerkschaften gingen im Chaos der Massenmigration unter, kritische Medienstimmen ebenfalls. Kaum jemand argwöhnte, dass die politischen Vorstösse ein Test waren. Denn bereits im August präsentierte die Zentralregierung eine radikale Gesetzesänderung für Industrie- und Dienstleistungssektoren.
Errungenschaften zurückgedreht
Genau wie bei den früheren Vorlagen wurde die in über fünfzig Jahren gewachsene rechtliche Architektur über den Haufen geworfen. Die Frucht einer mühsam ausgehandelten Arbeitsgeschichte (international verankert in zahlreichen Konventionen der ILO, Internationale Arbeits-Organisation) wurde ohne parlamentarische Prüfung durchgewinkt. Es geschah ohne Einbezug von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, ohne Rücksicht auf Empfehlungen von Reformkommissionen, ohne Konsultation mit der ILO.
In wesentlichen Bereichen des Arbeitsschutzes kam es zu einer Verwässerung. Die Prinzipien kollektiver Arbeitsverträge, des Rechts auf Vereinigungsfreiheit und Streik, von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz stehen plötzlich zur Disposition.
Der Schutz vor willkürlicher Entlassung wird in den neuen Gesetzen ebenso gelockert wie die Pflicht von Inspektionen ohne Vorankündigung oder der Rechtsschutz von (namentlich weiblichen) Hausangestellten. Die rund 300 Millionen Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter hatten in der Pandemie eben erst ihre eigene Schutzlosigkeit erfahren. Nun gingen sie – bei Vertragsschutz, Mindestlöhnen und Arbeitszeit – einmal mehr leer aus.
Zehn Gewerkschaften appellierten an die UNO; der ILO-Generalsekretär intervenierte beim Premierminister. Es nützte nichts. Der Parlamentsopposition war mit dem Durchpeitschen der Gesetzesänderungen die Plattform entzogen. Und die Medien, namentlich die elektronischen, waren inzwischen so willfährig geworden, dass keine landesweite Debatte in Fahrt kam.
Reformbedarf in der Landwirtschaft
Wen wundert’s, dass sich Premierminister Modi einmal mehr ermuntert sah, seine Brandrodung der demokratischen Landschaft fortzusetzen. Kaum waren die Arbeitsgesetze in Kraft, kam die Landwirtschaft an die Reihe. Auch hier klang der Vorwand einer notwendigen Reform durchaus legitim.
Wie die Industrie sitzt die Landwirtschaft auf einem Dickicht von Gesetzen. Sie haben sich über die Jahrzehnte aufgehäuft und sind mit immer mehr Sonderregelungen und Ausnahmen versehen. Oft bevorteilen sie politisch mächtige Gruppen und Akteure; und sie sind ein Paradies für Korruption.
Im Unterschied zur grossen Mehrheit der Industriearbeiter und selbständigen Dienstleister sind die Bauern weit mächtiger und besser organisiert. So konnten sie bisher ihren Anspruch auf einen gesetzlichen Mindestpreis ihres Getreides und einer staatlichen Abnahmegarantie durchsetzen.
Der Minimum Support Price (MSP) stammt aus einer Zeit, als Indien viel zu wenig Getreide produzierte und darauf angewiesen war, dass die Bauern möglichst viel Weizen und Reis anbauten. Der MSP sollte den Bauern helfen, den teuren Dünger zu bezahlen. Zudem musste der Staat grosse Lager anlegen, um Hungersnöte zu vermeiden.
Falsche Anreize
Der Erfolg dieser Politik war die berühmte Grüne Revolution: eine Verzehnfachung des Getreide-Outputs. Doch inzwischen produziert das Land längst Überschüsse. Der MSP ist jedoch ein ökonomischer Anreiz zu noch mehr Anbau. Die Food Corporation of India kauft daher jedes Jahr Millionen von Tonnen Getreide ein, obwohl sie inzwischen auf riesigen Mengen von Getreide sitzt; gegenwärtig sind es über 80 Millionen Tonnen. Nur die Ratten und Fäulnisbakterien sind verlässliche Abnehmer; sie sorgen dafür, dass rund ein Drittel der Lagerbestände zugrunde geht.
Kommt hinzu, dass der MSP und die Abnahmegarantie nicht nur falsche Anreize schafft. Er hält die Bauern auch davon ab, zu diversifizieren, etwa in Obst- und Gemüseanbau. Es besteht also grosser Reformbedarf. Doch einmal mehr hat Modi rasch Tatsachen schaffen wollen. Wiederum schockierte er die Öffentlichkeit mit drei neuen Gesetzen, und wiederum segnete sie das Parlament in unbürokratischer Eile innert Stunden ab.
Alle Macht dem Grosshandel
Die hastig geschriebenen Gesetze zeigen eigentlich nur eine Zielrichtung: Der Staat wird aus der Verantwortung entlassen, der Privatsektor soll es richten. Nicht nur werden Preis- und Abnahmegarantien weitgehend abgeschafft, auch die rund zehntausend Abnahmestellen werden aufgehoben. In Zukunft sollen die Bauern ihre eigenen Genossenschaften gründen oder vollständig privat mit Einkäufern verhandeln.
Den Bauern ist klar, dass dies eine existenzgefährdende Formel ist, denn bei Überschüssen und Jeder-gegen-jeden werden sie nicht mehr kostendeckende Preise erzielen. Dies gilt gerade für Grosseinkäufer wie etwa die Reliance-Gruppe von Mukesh Ambani, den Modi bereits in dessen Telecomgeschäft bevorzugt behandelt hat. Er will nun auch zum führenden Einzelhändler Indiens aufsteigen. Die bäuerlichen Anbieter hingegen bestehen zu 60 Prozent aus Kleinbauern. Mit seiner Marktmacht könnte Ambani also die Preise beliebig diktieren.
Doch für einmal scheint Modi bei den Bauern auf Stein gebissen zu haben. Sie fürchten, dass es um ihr ökonomisches Überleben geht. Wie ein neuzeitlicher Grosswesir hat es Modi einmal mehr nicht für nötig erachtet, Anhörungen durchzuführen und dadurch gangbare Wege für eine echte Reform zu finden. Die Bauern sahen also keinen anderen Ausweg, als sich auf ihre (eigentlich unsinnige) Forderung eines MSP und einer staatlichen Abnahmegarantie festzubeissen.
Verhärtete Fronten
Seit über einem Monat haben die bäuerlichen Proteste nicht nachgelassen. Die aggressiven Polizeieinsätze – Wasserkanonen im kalten Winter – und die einseitige Medienberichterstattung tragen das Ihre dazu bei, ebenso wie die Unfähigkeit Modis, einen echten Dialog für eine überfällige Reform zu beginnen.
Die Bauernschaft Nordindiens – die bisherige Hauptnutzniesserin des MSP und nun das sprichwörtliche Bauernopfer – hat ihre Positionen verhärtet. Das gilt sowohl für die riesigen Heerlager von Traktoren und Lastwagen vor den Toren der Hauptstadt wie für die inhaltlichen Forderungen der Bauernführer. Nicht nur die Kälte des Winters, auch die erstaunlich gute Monsunernte sowie Solidaritätsbekundungen aus dem ganzen Land heizen die Radikalisierung weiter an.
Modi folgt derweil seiner bewährten Spielanlage. Er schickt seine Minister an die Front und hält sich zurück. Das Kalkül ist leicht durchschaubar: Die Regierung und die Parlamentarier mögen höchst unpopulär sein – doch der Landesvater schwebt über der Staubwolke des Kampfplatzes. Der menschgewordene Mythos bleibt unangreifbar und sieht sich als Sieger vom Feld gehen, wenn es zur nächsten Wahl kommt. Doch das Gesetz der Strasse folgt keinen eingespielten Rechtsformen. Und auch die sturen Bauernschädel haben im Bauernland Indien einen nahezu mythischen Status.