Dieses Jahr feiert Narendra Modi sein fünfjähriges Amtsjubiläum – eine Gelegenheit für die Bürger, seine Leistung einer Prüfung zu unterziehen. Wie in jeder Demokratie besteht der Test in der Neuwahl der Volkskammer, deren Laufzeit im Mai abläuft.
Jede Regierungspartei in Indien versucht die Überprüfung ihrer Tätigkeit zu unterlaufen, indem sie ein Wahlmanifest verabschiedet, das stattdessen Versprechungen für die neue Amtszeit macht. Wahlversprechen sind Schuldscheine, die am Ende der Legislatur fällig sind – und selten eingelöst werden. Regierungspolitiker stellen lieber neue Promissory Notes aus und vertrösten den Wähler auf die Zukunft.
Auch Narendra Modi ist dem Wähler einiges schuldig geblieben. Besonders schwer wiegt sein Versprechen von 2014, „Entwicklung für alle“ zu bringen. Für die meisten Wähler – achtzig Prozent von ihnen ohne festes Lohneinkommen – heisst dies: Jobs.
Uneingelöste Versprechen
Sie wurden nicht geschaffen. Trotz einem Wachstum von über 7% pro Jahr stagnierte die Zahl von offenen Stellen in der Verwaltung und Industrie, da sich Rationalisierungen und Neueinstellungen die Waage hielten.
In den Staatsfirmen nahm die Gesamtzahl der Arbeiterschaft sogar ab, von 1,7 auf 1,5 Millionen; Stellenangebote in der öffentlichen Verwaltung sanken in den letzten drei Jahren um 11 Prozent. Dies geschieht notabene in einem Land, in dem jedes Jahr 13 Millionen junge Leute neu in den Arbeitsmarkt eintreten.
Das versprochene wohlstandsfördernde Arbeits- und Sozialklima „für alle“ wurde ebenfalls nicht eingehalten. Mit der BJP verbandelte Organisationen und Aktivisten heizten religiöse und soziale Konflikte noch an. Besonders fatal war dies für die Bauern: Das religiös verbrämte Schlachtverbot für Kühe führte zur Schliessung von Schlachthöfen und dem Schrumpfen der Lederindustrie. Dutzende von Millionen unverkäuflicher und unproduktiver Kühe kosten die Bauern nur noch Geld; viele stellen sie deshalb auf die Strasse. Streunende Kuhherden bedrohen nun auch noch Felder und Ernten.
Zeit, die Ärmel hochzukrempeln
Eine erste Quittung wurde bereits ausgestellt. In der letzten Wahlrunde für fünf Provinzparlamente verlor die BJP die Kontrolle über drei Bundesstaaten in ihrem nordindischen Herzland. Dort hatte sie in den letzten Nationalwahlen bis zu neunzig Prozent der Sitze gewonnen. Befreundete Journalisten in Delhi spekulieren nun nicht mehr über die Höhe des kommenden BJP-Siegs, sondern über eine mögliche Niederlage.
Zeit also für Modi und seinen Partei-General Amit Shah, die Hemdsärmel hochzurollen. Vor den erwähnten Provinzwahlen hatten viele befürchtet, dass die BJP mit anti-muslimischer Stimmungsmache einmal mehr versuchen könnte, die Hindu-Mehrheit hinter sich bringen.
Als Wahlkampf-Zugpferd setzte sie Swami Adityanath ein. Er ist ein Hindu-Heissporn, der über die Lynchjustiz seiner Stosstrupps lächelnd hinwegsieht, obwohl er als Chefminister einer Provinz für Recht und Ordnung sorgen sollte. Er prophezeite in seinen Wahltiraden grossspurig ein Hindu-Reich – und fiel auf die Nase.
Modis Cleverness
Offenkundig wollte Modi mit dem Swami als Wahlkampf-Lokomotive testen, ob die rabiate Hindu-Karte weiterhin sticht. Adityanath ist ein glühender Verfechter des Baus eines Tempels in Ayodhya, auf dem Boden einer Moschee, die 1992 von einem Hindu-Mob zerstört worden war. Würde sich „Ayodhya“ vielleicht als Wahlkampf-Slogan für Mai ’19 ausschlachten?
Die Antwort des Wahlvolks war ein klares „Nein“. So sieht sich Modi nun veranlasst, eilig andere Strategien zu entwickeln. Und er handelt rasch. In der ersten Januarwoche verabschiedete das Parlament gleich drei Gesetzes- und Verfassungsvorlagen, die zeigen, mit welchen Themen die BJP im Mai punkten will.
Die anti-muslimische Spitze darf natürlich nicht fehlen, bildet sie doch den Kitt, der die heterogene Hindu-Identität einbinden soll. Modis Cleverness zeigt sich hier besonders schön: Er brachte den Triple-Talaq-Gesetzesentwurf vors Haus, der sogar bei vielen Muslimen populär ist. Er ächtet nämlich die beschämende Sanktion des islamischen Sozialrechts, wonach sich ein Mann scheiden lassen kann, wenn er gegenüber seiner Gattin dreimal hintereinander das Wort talaq – „geschieden“ – ausspricht. Nur wenige Kommentatoren kritisierten, dass der Entwurf das religiöse Persönlichkeitsrecht unterläuft, das die Verfassung jeder Religionsgemeinschaft zusichert.
Verletztes Grundrecht
Die zweite Vorlage von letzter Woche war dagegen fast unverschämt in ihrer anti-islamischen Spitze. Es ist ein neuer Verfassungsparagraph, der Migranten aus den umliegenden Ländern künftig das Bürgerrecht zuspricht, solange sie nicht ... Muslime sind. Auch hier wird also ein Grundrecht – jenes der Gleichbehandlung – offen verletzt.
Dennoch hat religiöse Polarisierung – das zeigten die kürzlichen Regionalwahlen – vorläufig nur einen geringen Tauschwert. Sie löst Unruhen aus und gefährdet damit jenes Gut, das eine Mehrheit der Wähler am höchsten schätzt: zivile und ökonomische Stabilität, mithilfe verbesserter Beschäftigungschancen.
Diesem Ziel dient die zweite Verfassungsänderung, die am 6. Januar vor das Parlament kam und bereits zwei Tage später verabschiedet wurde: Die Ausweitung der Quoten bei Studienplätzen und staatlichen Jobs um zehn Prozent.
124. Verfassungsänderung
Bereits sind 49,5% aller offenen Schul- und Verwaltungsstellen „reserviert“ – für Dalits, Ureinwohner und „Other Backward Classes“ (OBC). Nun sollen weitere zehn Prozent der Bevölkerung bevorzugt werden, die arm sind und keiner der obigen Kategorien angehören.
Es ist bereits die 124. Verfassungsänderung der siebzigjährigen Republik. Doch es ist erst das dritte Mal, dass es um eine Quotenänderung geht: Die erste hatte Reservations für Dalits und Ureinwohner festgelegt (1951), die zweite solche für OBCs (1989).
Der Grund für Zurückhaltung liegt in einem alten Entscheid des Obersten Gerichts, wonach die Verfassung ein Überschreiten der Grenze von 50% der reservierten Stellen und Studienplätze nicht zulässt. Sonst würde das meritokratische Grundrecht der Chancengleichheit vollends unterhöhlt.
Hilfe für die Opfer der Kastendiskriminierung
Die neue Zehnprozent-Quote bedarf daher einer Verfassungsänderung, welche die bisherige Restriktion aushebelt. Zudem wird das Zulassungskriterium geändert: Früher war es ein soziales gewesen – die Kaste –, nun ist es nur noch ein ökonomisches, nämlich Armut.
Zum ersten Mal rührt eine Regierung damit an ein Tabu, das bisher als sakrosankt galt: Der Staat muss den Opfern der Kastendiskriminierung helfen, nicht einfach den Armen. Früher war dies sicher berechtigt, denn Kastendiskriminierung ging fast immer einher mit ökonomischer Ausbeutung.
Doch nach bald siebzig Jahren „Bevorzugung“ unter Dalits und Ureinwohnern hat sich eine (wenn auch hauchdünne) Elite herausgebildet. Diese verschafft ihren Kindern bevorzugt Schulplätze und Jobs, obwohl sie darauf nicht mehr angewiesen wäre. Brahmanen dagegen können bitterarm sein – und viele sind es – haben aber kaum eine Chance, ihren Kindern beim begrenzten Angebot zu Stellen und Schulplätzen zu verhelfen.
28 Millionen Anwärter für 90’000 Hilfsjobs
Diese Verzerrung mag ein Grund sein, warum die Verfassungsvorlage letzte Woche von allen Parteien unterstützt wurde. Liberale Parlamentarier fanden auch aus einem andern Grund Gefallen daran: Die Zehnprozentquote gilt für die „General Category“ und schliesst damit auch Muslime ein. Diese wurden bisher (mit geringen Ausnahmen) von Quoten ausgeschlossen, obwohl sie heute zweifellos ausgegrenzt werden und zudem die ärmste Bevölkerungsgruppe Indiens darstellen – ärmer noch als die Dalits.
Ausserhalb des Parlaments haben Experten dagegen fast zynisch auf die Verfassungsänderung reagiert. Denn was nützen Quoten für Studienplätze und Jobs, wenn beide kaum vorhanden sind? Die Knappheit an Schulplätzen zeigt sich etwa darin, dass für die Mittel- und Oberstufe, und erst recht bei der Universitätsausbildung, inzwischen Examensresultate mit einer Trefferzahl von über 95 Prozent erreicht werden müssen, damit die Schülerin weiterkommt.
Noch dramatischer sind die Zahlen bei Jobs in der öffentlichen Verwaltung. Als die Indische Eisenbahn letztes Jahr 90’000 Hilfsjobs ausschrieb, meldeten sich 28 Millionen Anwärter. Und der Indian Express berichtete, dass sich bei einer Ausschreibung einer Provinzverwaltung für 62 Peons – die tiefste Lohnkategorie der Aktenverteiler und Tee-Servierer – 93’000 Personen kandidierten. 3’740 von ihnen trugen einen Doktortitel.