Narendra Modi bleibt in Aufräumstimmung. Zuerst räumte er mit den bisherigen Machtverhältnissen auf, nun nimmt er auch buchstäblich den Besen in die Hand.
Gandhis Geburtstag
Am Abend (indischer Zeit) hatte er noch in Washington mit Präsident Obama gespeist, am nächsten Morgen wischte der neue Premierminister Indiens eigenhändig den Vorhof einer Polizeistation in Delhi. Es war der 2. Oktober, Geburtstag von Mahatma Gandhi. Am frühen Morgen hatte Narendra Modi dessen Grabmal besucht, wie es für den Premierminister am Fest des Vaters der Nation üblich ist. Aber Modi hiesse nicht Modi, wenn er dasselbe Ritual abgespult und dann nach Hause gefahren wäre.
Als Erste mussten dies die Beamten der Zentralregierung erfahren. Statt einem langen Wochenende entgegen zu sehen – ‚Gandhi Jayanti’ ist ein nationaler Feiertag, am Freitag wurde das Dassehra-Fest gefeiert – mussten sie am 2.Oktober um neun Uhr antreten und den Besen in die Hand nehmen. Dasselbe galt für die Minister und BJP-Abgeordneten; auch sie mussten Büros, Vorräume und Treppen wischen, in den Ministerien und zuhause in den Wahlkreisen.
Populärer Videoclip
Die Beamten der Polizeistation dagegen wussten von nichts. Sie rannten herum wie erschrockene Hühner, als der Premierminister (war er nicht in den USA?) seine Kavalkade anhalten liess und besenbewehrt in den Vorhof stürmte. Alle Medien erwarteten ihn in einer Dalit-Wohnkolonie, wo er seine neueste Kampagne ‚Clean India’ eröffnen sollte. Alle? Wiederum: Modi wäre nicht Modi, wenn er nicht einen Kameramann des Staatsfernsehens bei sich gehabt hätte. Die Szene in der Kolonie würde gestellt wirken, der Unrat telegen auf dem Boden verteilt. Hier war kein Potemkinsches Dorf errichtet worden. Und Dreck gab es, das versteht sich für einen Bau des Staats, eh genug. Der Videoclip des Besenschwingers explodierte in den sozialen Netzen.
Die Szene wirkte auch deshalb echt, weil Modi den Besen gekonnt führte, im Gegensatz zu seinen Kollegen. „Ich bin ein kleiner Mann“ hatte er drei Tage zuvor in die Versammlung der ‚Overseas Friends of the BJP’ in New York gerufen, wo sie ihm wie einem Heilsbringer Treue schworen. „Aber ich habe Grosse Ideen“. Eine davon: „Mahatma Gandhi gab uns ein freies Indien. Aber er wollte uns auch ein sauberes Indien geben. Es ist an der Zeit, dass wir dieses Versprechen einlösen“.
Dreckogstes Land der Welt
In gewohnt präziser Choreografie sprach Modi nach dem kleinen Besentanz feierlich das Gelöbnis, dem Mahatma in fünf Jahren – an seinem 150.Geburtstag – ein sauberes Indien vor die Füsse zu legen. Er werde jede Woche zwei Stunden dort Hand anlegen, wo Dreck herumlag, wo ein Fluss verseucht war, wo Toiletten stanken – also fast überall im Land. Wie beim ‚Eiskübel’-Challenge, der kürzlich auch über Indien niederstürzte, nannte der PM neun Prominente, darunter Bollywood-Stars und einen Kongresspolitiker, die das Gelöbnis ebenfalls ablegen und neun weitere Personen für den Besendienst überzeugen werden.
Misstrauische Kritiker Modis – von denen es noch Einige gibt, darunter den Schreiber dieser Zeilen – sehen sich ein weiteres Mal in die Enge getrieben. Was Modi hier verspricht, ist weissgott kein populistischer Trick, um mit dem Mahatma ein weitere Ikone der Kongresspartei für sich einzuspannen. Modi hält seinem Volk hier einen unerbittlichen Spiegel vor, der zeigt: „Unser Land ist so ziemlich das dreckigste der Welt“. Damit macht man sich keine Freunde.
‚potty training’
Zudem geht es nicht nur um Abfall auf den Strassen und die Kloaken namens Ganges und Jamuna. Modi will auch fertigbringen, dass die 650 Millionen Mitbürger, die immer noch im Freien ihre Notdurft verrichten, sich endlich in ein WC einschliessen. Das öffentliche Darmentleeren ist nicht nur ohne Charme, es hat fatale Folgen. Es ist der wichtigste Grund dafür, dass die indische Gesellschaft ein derart katastrophales Krankheitsbild zeigt - mit 200'000 Kindern unter fünf Jahren, die Jahr für Jahr allein an den Folgen von Durchfall sterben. Und da die Hälfte aller ‚Freiluft-Toiletten’ weltweit in Indien steht, werden die armen Länder nächstes Jahr auch die ‚Millenium Development Goals’ der UNO im Gesundheitssektor verpassen.
Die Herausforderung ist hart, weil sich so viele Inder so sehr mit ihrem Abfall abgefunden haben, dass sie ihn gar nicht mehr wahrnehmen. Sie ist besonders hart für den Hindutva-Poster Boy Modi. Denn es geht um weit mehr als hygienisches ‚potty training’. Die Benützung einer Toilette berührt religiös legitimierte Kastentabus, etwa Jenes, das fürs Saubermachen eine eigene Kaste vorsieht, die man sich als ‚Unberührbare’ vom Leib hält - wie Abfall eben. Diese Berührungsängste sind auch ein Grund dafür, dass es der Staat in den letzten dreissig Jahren fertiggebracht hat, 25 Milliarden Dollar auszugeben, aber nicht, die andere Hälfte Inder vom Kauern zum Sitzen zu emanzipieren.
Gekonnte Tiefstapelei
Kein opportunistischer Politiker würde sich an ein solches Tabu-Thema machen. Doch Modi hat es schon letztes Jahr getan, als er im Wahlkampf sagte (man beachte den gewundenen Satzbau, sonst keine Modi-Eigenart): „Eigentlich erlaubt es mein Image nicht, dies zu sagen. Aber in Wirklichkeit denke ich dies: ‚Zuerst Toiletten, dann Tempel’.“ Die Hemdsärmel hatte er bereits hochgerollt, nun machte er sich auch noch die Hände schmutzig. Aber es war natürlich auch Wahlkalkül. Denn: „Ich bin ein kleiner Mann, gar ein ‚Unberührbarer’“, wie er gekonnt tiefstapelte. Der kleine Mann schenkte ihm darauf einen grossen Sieg.
Der Dreck steht dem Land bis zum Hals. Mit der Konsumwelle haben dessen Gerüche und Bildeindrücke inzwischen auch Nase und Augen erreicht. Jedermann sieht dies ein, vor allem die städtische Mittelschicht, das entscheidende Segment der politischen Öffentlichkeit. Auch die Medien schiessen seine Botschaft aus allen Röhren, die Botschaft und – Politik ist Spektakel – auch den Boten. Modi hat sie mit seinem sorgfältig austarierten Auftritt völlig vereinnahmt. Er ist wahrhaftig ‚Bigg Brother’, kraftvoll und bescheiden, nachsichtig und streng, humorvoll und furchteinflössend, ehrerbietig und ehrfurchtgebietend – und wie die Merkmale einer autoritärer Persönlichkeit alle heissen mögen.
Image-Verbesserung
Eine andere Frage ist, was Modi mit seinem gandhianischen Auftritt wirklich meint. Denn der Mahatma hatte auch gesagt: „Reinlichkeit ist Göttlichkeit“ – ohne einen lauteren Geist gibt es keinen sauberen Körper. Falls er dies wirklich anstrebt, muss Herr Modi noch andere Besen schwingen, und dies in seiner engen Umgebung. Sein wichtigster Berater, BJP-Präsident Amit Shah, wird mehrfachen Mords verdächtigt und ist nur gegen Kaution auf freiem Fuss. Sechs seiner Minister stehen ebenfalls unter Anklage, und die Regierungspartei führt das grosse Kontingent krimineller Parlamentarier an.
Der Premierminister hat versprochen, alle hängigen Klagen gegen Abgeordnete in zwei Jahren zu erledigen, sei es durch Freispruch oder Verurteilung. Nur so könne man vernünftig Politik betreiben. Bis dies geschieht, ist die Vermutung erlaubt, dass es Modi eher um Indiens Image-Verbesserung geht, vor dem Ausland, aber auch vor dem eigenen Spiegel. Indien soll wieder stolz sein können auf sich selber, wie Singapur, wie China, wie der Westen. Niemand soll darüber die Nase rümpfen.