Es ist ein seltenes Gefühl, am Morgen zu erwachen und zu erfahren, dass die meisten Geldscheine in der Brieftasche noch so viel wert sind wie das Papier und die Druckerschwärze darauf. Während man sich noch überlegt, wo zuhause sonst noch 500er und 1000-Rupien-Noten herumliegen könnten, dämmert plötzlich die Einsicht, auf was für behelfsmässigen Stützen man seine Existenz aufbaut.
Vor Mitternacht waren die Geldautomaten leer
Ich sass wohlbehütet und fernsehlos in einer Ayurveda-Klinik, als Premierminister Narendra Modi am letzten Dienstagabend vor die Kameras trat und der Nation verkündete, dass mit dem letzten Glockenschlag die 500er und 1000er-Scheine kein legales Tauschmittel mehr darstellten. Auch als ich am anderen Morgen davon Wind bekam, blieb es still. Nur das Glöckchen ertönte, um den Beginn der Morgenmeditation anzuzeigen.
Doch in den Strassen der indischen Städte kam es bereits zu ersten Menschenansammlungen, noch während Modi sprach. Vor den Bancomat-Schaltern – hier ATMs genannt – bildeten sich spätabends Schlangen von Leuten, um möglichst viele Einhunderter-Scheine zu beziehen, weil die grösseren Denominationen bereits nicht mehr angenommen wurden. Noch vor Mitternacht waren die Maschinen leer.
Goldpreise schiessen auf Rekordhöhe
Am nächsten Morgen blieben die Banken geschlossen, um diesen, so hatte der Landesvater verfügt, Zeit zu geben, sich für den kommenden Sturm zu wappnen. Die Menschen liefen in den wenigen Institutionen zusammen, die die grossen Geldscheine weiterhin honorieren sollten – Tankstellen, Spitäler, Apotheken, Eisenbahnschalter. Doch auch deren Reserven von Hunderter- und Fünfziger-Scheinen waren rasch aufgebraucht. Zudem begannen Kassiere bereits, aus der Not eine (Un-)Tugend zu machen: Statt fünf Hunderterscheine für einen 500er gaben sie nur vier, oder gar drei, heraus. Tankstellen schrieben in der Not anstelle des Rückgelds von Hand Schuldscheine aus.
An anderen Orten dagegen wurde es plötzlich sehr still. Die grossen Gemüsebazaare blieben, wie auch die Ladenzeilen und die Busstationen, halbleer. Transportunternehmen hatten sich geweigert, die Ware in die städtischen Märkte zu bringen, weil die 500er und 1000er Scheine plötzlich Outcastes waren – unberührbar. Die wenigen Händler, die ihre Ware noch anboten, taten dies zu exorbitanten Preisen, oder es ging ihnen schon bald das Rückgeld aus. Nur die Juwelierläden machten das grosse Geschäft, da die Preise für die Unze Gold sofort auf Rekordhöhe schossen.
Alle wollen die grossen Scheine loswerden
Inzwischen sind die Banken wieder offen, und man weiss nun auch, dass die Rückgabe der faulen Scheine bis Ende Dezember möglich ist. Dennoch drängen sich vor jeder Filiale in Indien die Menschen, um ihre plötzlich ungeliebten grossen Scheine loszuwerden. Die hochverschuldeten staatlichen Geldinstitute sind plötzlich überliquide. Die grösste Geschäftsbank, State Bank of India (SBI), nahm am Donnerstag so viel Depositen entgegen wie sonst in einem ganzen Monat – 109 Milliarden Rupien. Die grossen Scheine machen zwar nur 20 Prozent aller Banknoten aus, repräsentieren aber wertmässig 86 Prozent des gesamten Geldumlaufs.
Wo SBI und alle anderen Banken versagten, war bei der Herausgabe von Geld. Die Reserve Bank of India war in das hochgeheime Vorhaben zwar eingeweiht worden, konnte aber bei der enormen Nachfrage nach neuen Geldscheinen (im Wert von 14 lakh crore Rupien – eine Million Millionen) nicht rechtzeitig genügend neue Geldscheine der neuen 500er- und 2000er-Stückelung drucken. Ohne diesen Sauerstoff wird sich der wirtschaftliche Blutkreislauf nun zwangsläufig verlangsamen, denn in Indien werden immer noch rund neunzig Prozent der Transaktionen in bar ausgeführt.
Modis Begründung
Der Premierminister bemühte sich, seinen drastischen Schnitt mit der Notwendigkeit des Kampfs gegen die Korruption zu begründen. Besonders die Armen seien Opfer der Korruption, sagte er zu Recht. Es sei eine nationale Pflicht, dieses Krebsübel auszurotten – und leider sei dies nur möglich, indem man einen grossen Teil des Sumpfs radikal trockenlege. Zudem gelte es, den Zufluss von Falschgeld aus pakistanischen Druckerpressen zum Zweck der Terrorfinanzierung zu stoppen.
Der indische Schwarzmarkt ist eine riesige Parallelökonomie. Er trägt 20 bis 25 Prozent zur wirtschaftlichen Gesamttätigkeit bei. Ein grosser Teil davon wird in Bargeld gehortet, und dieses fliesst problemlos in den formellen Wirtschaftskreislauf, weil mehrere hundert Millionen Menschen nur mit Bargeld leben.
Gold und Land als Parallelwährung
Je grösser der Wert der Notenbündel, desto leichter sind sie zu horten. Als in den frühen neunziger Jahren ein Börsenskandal um den Makler Harshad Mehta aufflog, wurde publik, dass er mit einem grossen Koffer auch dem Prime Minister’s Office einen Besuch abgestattet hatte – und dabei fotografiert worden war. Die Journalisten machten sich einen Sport daraus, aufgrund der errechneten Dimensionen des Koffers die Anzahl Hundert-Rupien-Bündel – und damit die Höhe des Schmiergelds – zu errechnen. Bereits 1978 hatte die Regierung in einer ähnlichen Aktion wie jener vom 8. November alle Noten über 100 Rupien für ungültig erklärt.
Das Geld unter der Matratze macht allerdings nur etwa ein Viertel des gesamten Schwarzmarktvermögens aus. Gold ist als Parallelwährung ebenso beliebt, und so sind es Landparzellen und Wohnraum, abgesehen vom sogenannten Hawala-Markt, den nicht-deklarierten Vermögenswerten im Ausland. Zudem gibt es keine Garantie, dass Geld nicht wieder in Umlauf kommt, ausserhalb des Bankensystems und damit dem Zugriff des Fiskus entzogen.
Wirksamer Kampf gegen Korruption?
Modi bewies grossen politischen Mut, im Vorfeld wichtiger Regionalwahlen und mitten in der Fest- und Hochzeitssaison seinen Landsleuten dieses Einbrechen ihres Guthabens zuzumuten. Er erklärte, Leute mit ehrlich erworbenem Bargeld könnten die Noten ohne Probleme gegen neue umtauschen. Aber dies kann Wochen, wenn nicht Monate dauern. Und wie viele „ehrliche Leute“ haben schon für jede Banknote eine Quittung, die ihre Rechtmässigkeit ausweist?
Dies gilt gerade für die Armen, sind diese doch Tag für Tag auf ihr geringes Bar-Einkommen als Tagelöhner oder Marktfrauen angewiesen. Mit Recht wies der Premierminister aber auch darauf hin, dass die grassierende Korruption besonders die Armen hart treffe. Er appellierte an sie, diese Rosskur als nationales „Fest der Integrität“ zu betrachten, das dem Land seinen Stolz zurückgeben könne.
Aber das Publikum weiss nur zu gut, dass gerade die Politikerkaste einer der wichtigsten Motoren der Parallelwirtschaft ist. Wahlkämpfe sind teuer, und die legalen Ausgabenplafonds sind lächerlich tief. Ohne eine Reform der Wahlkampffinanzierung wird die Nachfrage nach Bargeld den Schwarzmarkt weiterhin in Schwung halten. Es war wohl kein Zufall, dass das Kabinett erst unmittelbar vor Modis TV-Ansprache über die Massnahme informiert wurde. Und die Minister wurden im Amt des Premiers zurückgehalten, bis seine TV-Ansprache begann. Das zeigte, wie wenig Modi seinen eigenen Kollegen über den Weg traut.
Der Mann mit der Modi-Maske
Für den Augenblick scheint sich Modis Wette auszuzahlen. Die meisten Leute, die in den Warteschlangen leichte Opfer von Journalistenfragen darstellen, zeigten sich verständnisvoll. Sollten sich die täglichen Ansammlungen vor Banken und ATMs jedoch hinziehen, drohen sie zu einer gefährlichen Sprengmasse zu werden. Bereits sind die ersten Opfer zu beklagen. Drei Menschen starben, während sie unter der brennenden Sonne vor Bankfilialen warteten.
Dazu kommen Nachrichten wie jene aus Delhi, wo angeblich mehrere Filialleiter verhaftet wurden, weil sie illegal eine Milliarde Rupien als Depot entgegengenommen und damit „weissgewaschen“ haben. Und am Samstag konnten sich die vielen Wartenden ein Video ansehen, das millionenfach über Mobiltelefone verbreitet wurde. Es zeigt einen Mann mit einer Modi-Maske mitten in einer Menschentraube, der von einer Frau mit ihrer eigenen Sandale geohrfeigt wird.