Die Schweiz und Indien gleichen sich – vermutlich wie kein anderes Länderpaar – in der Tatsache, dass ständig abgestimmt wird. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in der Schweiz meist über Sachvorlagen gestritten und entschieden wird und in Indien nie. Hier sind es immer Wahlen.
Starker Föderalismus
Das Land hat inzwischen 29 Bundesstaaten, und jedes halbe Jahr wird im einen oder anderen ein neues Regionalparlament bestimmt, abgesehen von Gemeinde- und Bezirkswahlen. Da die föderale Struktur jedem Gliedstaat beträchtliche Macht einräumt, geht es jedesmal um sehr viel. Zudem entsendet jede Partei in einem Bundesland gemäss ihrer regionalen Stärke Abgeordnete in die Raja Sabha, das Oberhaus in Delhi. Dies kann – wie die gegenwärtigen Verhältnisse zeigen – entscheidend sein für die nationale Regierungsmacht. Jede Regionalwahl ist immer auch ein bisschen ein nationaler Urnengang.
Dies ist einer der Gründe, warum die jüngsten Wahlen in fünf Bundesstaaten so wichtig waren. Zum einen musste die Kongresspartei beweisen, dass sie noch am Leben ist, und sei es mit geringen Mehrheiten in kleinen Bundesstaaten wie Goa, Manipur und Uttarakhand. Dasselbe galt für die Regionalparteien und eine Protestpartei wie die Aam Admi Party, die nach ihrem Wahlerfolg vor drei Jahren in Delhi einen ersten überregionalen Fussabdruck in Goa und Panjab setzen wollte.
Aber nicht nur kleine Bundesstaaten gingen letzte Wochen an die Urne. Auch der grösste Bundesstaat, Uttar Pradesh, war an der Reihe. Dies war der Schlachtort, wo sich die BJP und Premierminister Narendra Modi beweisen mussten – und wollten. Denn Uttar Pradesh entsendet mit seinen 200 Millionen Einwohnern nicht nur eine grosse Zahl von Abgeordneten in die nationalen Parlamentskammern. Die Region im Ganges-Delta ist auch ein Kaleidoskop Indiens, mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil von armen Bauern und wenig Industrie. Es ist auch die Heimat von überdurchschnittlich grossen Minderheiten, allen voran den Dalits und Muslimen, die je ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen. Für die BJP gab es eine zusätzliche Herausforderung: Uttar Pradesh war in der Hand einer starken Regionalpartei, die ihre Basis unter den Bauern und den Muslimen hat.
Test für Modi
Wie würden diese sozialen und wirtschaftlichen Verwerfungen auf die aggressive Rhetorik der BJP reagieren? Sie hatte selbstbewusst keinen einzigen muslimischen Kandidaten aufgestellt, nur einige Dalits, und kaum Vertreter von Kleinbauern. Wie würden diese auf Narendra Modi reagieren, den Mann, der vor vier Monaten eigenhändig die Demonetisierung der Uttar Pradeshie durchgesetzt hatte, mit den fatalen Wirkungen für die ländliche Wirtschaft?
Man muss Modi attestieren, dass er trotz Kritik von allen Seiten zu seinem Entscheid stand. Er tat es auch in diesem Wahlkampf. Die Partei hatte keinen Kandidaten für das Chefminister-Amt in Lucknow bestimmt, was bedeutete, dass „der PM der CM“ war: The buck stops with me. Zwar fand sich der PM weiterhin für seine Stelldicheins in Delhi ein und liess sich mit Staatsbesuchern ablichten. Aber praktisch jeden Tag hüpfte er per Helikopter von einer Massenveranstaltung zur anderen, als ginge es ums politische Überleben.
Wahlen von 2019 im Blick
In einem gewissen Sinn war dies auch so. Denn abgesehen vom möglichen Effekt der Demonetisierung stehen Modi und seine Partei in diesem Augenblick am chronologischen Scheitelpunkt ihrer Regierungszeit. Von nun an geht es wieder Richtung Gesamtwahlen. Die Jahreszahl 2019 wird nun immer häufiger in den Schlagzeilen erscheinen, und bald schon werden die ersten Hashtags mit #Election2019 auftauchen.
Ein Sieg in Uttar Pradesh in der Wahl dieses Frühlings würde, das war allen klar, zu einer self-fulfilling prophecy werden: Siegt die BJP, wird Modi mit grosser Wahrscheinlichkeit weitere fünf Jahre am Ruder bleiben. Eine Niederlage würde offenlegen, dass auch dieser übergrosse Politiker auf tönernen Füssen steht.
BJP auf Siegeskurs
Modi und die BJP haben die Wahl in Uttar Pradesh gewonnen, und dies mit einem Erdrutschsieg. Von den 403 zu vergebenden Mandaten hat die Regierungspartei eine satte Mehrheit von 312 eingeheimst, mehr als das Sechsfache ihrer bisherigen Zahl von 47 Sitzen. Die regierende SP und ihr Partner, der Kongress, fielen von 198 auf 54 Mandate. Die BJP gewann ihre Sitze zudem mit grossen Mehrheiten – und verlor meistens knapp. Auch im nördlich gelegenen Himalayastaat Uttarakhand gewann die BJP nachdrücklich, zulasten des Kongresses.
Nur in einem hat die BJP ihr Ziel nicht erreicht: Eines ihrer Ziele ist die „Ausradierung“ der Kongresspartei in ganz Indien. Dies gelang ihr beinahe in Uttar Pradesh (Kongress: 7 Sitze). Aber in Goa hat die Gandhi-Partei zulasten der BJP gepunktet und wird dieser die Regierungsführung abnehmen. In Manipur bleibt sie trotz Verlusten am Ruder. Und im Panjab hat sie ihre Mandatszahl verdoppelt und wird eine satte Mehrheit ins Lokalparlament nach Chandigarh entsenden; BJP und ihr lokaler Regierungspartner wurden vernichtend geschlagen. Selbst die Protestpartei AAP erreichte nur zwanzig Sitze – allerdings von null bisherigen.
Indien in Safrangelb
Wie in Deutschland nehmen die Medien gerade bei Wahlterminen zur Kennzeichnung der Parteien gern auch Farben zu Hilfe. Die Schlagzeilen des Sonntags sprachen daher oft von einer weiteren Einfärbung der Landkarte in Safran (eine Farbtönung, die den Europäer eher an eine Orange erinnert). Aber noch öfter als der Parteiname erschien jener des Premierministers als Sieger des indischen „Herzlands“.
Narendra Modi hatte einmal mehr alles auf eine Karte gesetzt – und sie stach. Auch wenn die Partei numerisch nur zwei von fünf Bundesländern eroberte, der 200-Millionen-Koloss Uttar Pradesh war der strategische Brückenkopf dieser Wahl, und über ihr weht nun das Parteisymbol der Lotusblume. Der Sieg war zudem so emphatisch, dass auch innerparteiliche Kritiker Modis zum Schweigen gebracht wurden. Er und sein Parteichef Amit Shah kontrollierten jedes Detail des Wahlkampfs, und sie werden nun, bei der Ernennung des Regierungschefs in Lucknow und dessen Kabinett, die Friedensbedingungen diktieren.
Kommende Wahlen im Visier
In den Fernseh-Tischrunden am Samstag und Sonntag erschienen, neben dem breiten Lachen der BJP-Funktionäre, bereits erste prüfende Blicke auf nächste mögliche Geländegewinne. Modi und Shah begnügten sich mit einem „Dank an die Wähler, besonders die Armen und die Jugend“ – typische Wortschablonen, hinter denen sich bereits wieder Wahlkalkül verbirgt. Dieses Jahr stehen wiederum Urnengänge in zwei Bundesländern an. Und von Shah heisst es, er plane Besuche in den 120 Wahlkreisen des Landes, in denen die Partei bisher nie gepunktet hat.
Auch die Elite der Privatwirtschaft frohlockt. Die Börse von Bombay hatte bereits nach Erscheinen der Exit Polls zu einem Sturmlauf der Kurse angesetzt und kurz ein neues historisches Hoch erreicht. Am Dienstag nach dem Fest von Holi wird dieses zweifellos wieder in den Schatten gestellt werden. Modi und Shah ihrerseits dürften gut beraten sein, am Montag nur billige Kurtas zu tragen. Denn Holi-Pulverdampf und Wasserstrahlen sind ihnen sicher, und sie werden nicht nur safranfarbig daherkommen.