Zuerst versuchten sie, durch die Kanalisation nach Westen zu kommen. Dann begannen sie, Tunnel zu graben, um jene zu erreichen, von denen sie getrennt worden waren. Und heute machen die Berliner «Unterwelten» auf Besichtigungstouren klar, was es hiess, von 1961 an von einer Mauer eingeschlossen zu sein.
Vor genau sechzig Jahren ereignete sich in Berlin Welthistorisches. In der warmen Sommernacht vom 12. auf den 13. August 1961 gingen am Brandenburger Tor die Lichter aus. Männer zu Fuss rollten Stacheldraht aus, auf Trümmergrundstücken bezogen Panzer Stellung. Der Ost-Berliner Rundfunk unterbrach sein Programm, und fast eine Stunde später realisierte auch die Westberliner Polizei, dass da im Osten seltsame Dinge vor sich gingen. «Wir haben zuerst gedacht, die überrennen uns und marschieren in West-Berlin ein», erinnerte sich später ein ehemaliger Polizeihauptmann. «Aber die blieben auf den Zentimeter genau an der Sektorengrenze stehen.» Um 02.30 Uhr wurde der Vertreter der US-Regierung informiert – und legte sich wieder schlafen.
Führungen durch die Berliner Unterwelt
Die zwischen Ost und West verkehrenden S- und U-Bahn-Linien wurden eingestellt, auch am S-Bahnhof Gesundbrunnen fuhr keine S-Bahn mehr. Im Dunkel der Nacht hatte der Bau der Berliner Mauer begonnen, bis 1989 bestimmte sie das Schicksal der Menschen in der geteilten Stadt. Ganz in der Nähe des Bahnhofs Gesundbrunnen im damals Westberliner Bezirk Wedding befinden sich heute Geschäftsstelle und Museum von «Berliner Unterwelten» – eines Vereins, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die vielen unterirdischen Bauten der Stadt zu erforschen und sie auf Führungen auch zu zeigen. Ruinenlandschaften aus dem Zweiten Weltkrieg sind zu besichtigen, Deutschlands erster U-Bahn-Tunnel, oder auch ein ehemaliger Operationsbunker des Humboldt-Krankenhauses. Tour M erzählt von den Tunnelfluchten unter der Berliner Mauer hindurch. Sie beginnt schräg gegenüber dem Bahnhof, in der Bunkeranlage Blochplatz.
Als es am 13. August 1961 hell wurde, rieben sich die Berlinerinnen und Berliner die Augen und waren entsetzt. Viele Familien waren ebenso getrennt worden wie Paare. Studenten konnten nicht mehr an die Freie Universität im Westen, Pendler waren von ihren Arbeitsplätzen im Westen abgeschnitten. Man konnte zwar ahnen, dass etwas passieren würde, denn in den Jahren zuvor hatte sich der Exodus gerade der gut Ausgebildeten aus der DDR stetig beschleunigt. Die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Westen und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war zwar militärisch gesichert, doch in Berlin konnte man noch bequem von Ost nach West gelangen, indem man ganz einfach in eine U- oder S-Bahn stieg.
Noch aber war an diesem 13. August die spätere Berliner Mauer keine Mauer, sondern nur Stacheldrahtverhau, einzelne Häuserzeilen etwa an der Bernauer Strasse grenzten direkt an den Westen. Dort kam es zu dramatischen Szenen. Menschen sprangen aus den Fenstern, oder sie überwanden den Stacheldraht. Schon nach wenigen Tagen galt ein Schiessbefehl: Flüchtende sollten um jeden Preis aufgehalten werden, und koste es ihr Leben.
Das «Unternehmen Reisebüro» wird aktiv
Während oberirdisch Schlupfloch um Schlupfloch gestopft und der Grenzstreifen immer breiter wurde, war der Untergrund noch durchaus porös. Hier wurden die Westberliner Studenten vom «Unternehmen Reisebüro» aktiv, die Freundinnen und Freunde oder auch Familienangehörige im Osten hatten. Ihr erstes Betätigungsfeld war die Kanalisation. «Durch die Scheisse zur Freiheit»: So hat einer dieser Fluchthelfer ausgedrückt, worum es da ging; «Glockengasse 4711» ist nach dem bekannten Parfum als eine der beliebtesten Kanalisations-Fluchtrouten in die Geschichte eingegangen.
Doch die DDR schlief nicht. Schon vor dem Mauerbau angebrachte Gitter wurden verstärkt, da und dort wurde auch ein Einstieg entdeckt. Im Winter 1961 war auch dieser Fluchtweg verstellt. Und auch die drei Bahnlinien, die noch von West nach Ost und wieder zurück in den Westen führten, boten nur wenigen eine Fluchtmöglichkeit. Selbst die Notausgänge jener Bahnhöfe wurden verschlossen, durch die diese Züge fuhren. «Davon wussten auch die Bahnmitarbeiter nichts», erklärt unsere Führerin, bevor sie uns hinunter auf das Perron des Bahnhofs Gesundbrunnen führt.
Der «Rentnertunnel» ist besonders peinlich
Unser Ziel, zwei Stationen entfernt, ist die Bernauer Strasse, heute ein Erinnerungsort. Ein breiter Streifen erinnert an die Mauer, von der noch ein Stück erhalten geblieben ist und deren Geschichte die Gedenkstätte Berliner Mauer erzählt. Grosse Fotos zeigen, was hier geschah; in den Boden eingelassen sind zwei Platten mit den Beschriftungen «Tunnel 29» und «Tunnel 57». Mehr als siebzig Versuche hat es gegeben, die Mauer unterirdisch zu überwinden. Neunzehn davon waren erfolgreich, nur drei von Osten her.
Denn dort war es unter den Augen der Staatssicherheit weit schwieriger, im Geheimen grössere Grabungen vorzunehmen, als im Westen. Immerhin: Im Januar 1962 gelang es im Norden der Stadt der Familie Becker, von ihrem Haus in unmittelbarer Nähe der Grenze einen Tunnel zu graben, durch den 28 Personen in den Westen gelangten. Als letzte kroch die 71-jährige Grossmutter durch. Das Ehepaar Thomas hatte mitkommen wollen, war aber von den Brüdern Becker wegen ihres Alters abgelehnt worden – und grub nun, unter Anleitung des 81-jährigen Max Thomas, einen eigenen Tunnel, der dann auch als «Rentnertunnel» in die Geschichte einging. Auch der «eiserne Max» kam durch, zusammen mit elf weiteren, teils älteren Herrschaften. Was besonders peinlich für die DDR-Oberen war.
Insgesamt konnten über Tunnel rund 300 Menschen in den Westen gelangen. Die Übrigen wurden abgebrochen oder verraten. Ganz unterschiedliche Faktoren waren verantwortlich für Gelingen oder Scheitern: Manchmal erzwang ein zu sandiger Boden den Abbruch, manchmal drang Wasser ein. Oder die Bauarbeiten wurden entdeckt. Oder man landete am falschen Ort.
Hasso Herschel, der eifrigste Tunnelbauer
Wir haben an der Brunnenstrasse 143 ein Haus betreten, das die Geschichte der Tunnelfluchten erzählt und von dem aus auch ein noch existierender Tunnel zu besichtigen ist. Hasso Herschel hat ihn gegraben, der auf verschiedensten Wegen – etwa versteckt in umgebauten Autos – insgesamt etwa tausend Menschen zur Flucht verholfen hat. 1935 in Dresden geboren, war er schon früh mit dem DDR-Regime in Konflikt geraten. Mit einem für ihn präparierten Schweizer Pass flüchtete er im Oktober 1961 in den Westen, hier nahm er Kontakt auf zu den beiden italienischen Studenten Luigi Spina und Domenico Sesta, die zusammen mit ihrem Mitstudenten Wolf Schrödter einen Bekannten und dessen Familie in den Westen holen wollten. Dieser «Tunnel 29» vom September 1962 – so benannt nach der Zahl der durch ihn Geflüchteten – wurde deshalb berühmt, weil seine Entstehung von der NBC gefilmt und danach weltweit vermarktet wurde.
Wer hat Egon Schultz umgebracht?
Am erfolgreichsten war gemessen an der Zahl der Geflüchteten der «Tunnel 57» im Oktober 1964, mit dem eine besonders tragische Geschichte verbunden ist. Wieder war Hasso Herschel mit von der Partie, und, bei der Finanzierung, die Illustrierte «Stern». Der Tunnel war niedrig, aber mit 140 Metern relativ lang. Gegen Ende hin «wurde das Erdreich über uns plötzlich weich», erzählte Joachim Neumann, einer der Beteiligten, «wir waren in der Sickergrube eines Gott sei Dank schon sehr lange still gelegten Toilettenhäuschens gelandet.» Es erwies sich als Glücksfall, denn in zwei Nächten konnten hier 57 Menschen unauffällig nach Westen geschleust werden. Bis ein Trupp Grenztruppen auftauchte. Christian Zobel, der als letzter Fluchthelfer noch da war, zog seine Pistole, schoss und flüchtete durch den Tunnel. Anderntags las er in der Zeitung, dass er den Grenzpolizisten Egon Schultz erschossen habe, was ihn zeitlebens belastet hat – während Schultz vom Regime zu einem im Kampf gegen den Westen gefallenen Helden der DDR stilisiert wurde. «Die Wahrheit hat Zobel leider nicht mehr erfahren», sagt unsere Führerin. «Als die DDR unterging, fand man im Panzerschrank von Erich Mielke, dem Leiter der Staatssicherheit, den Obduktionsbericht von Schultz. Zobel hatte ihn zwar an der Schulter getroffen, aber gestorben war er von Schüssen der eigenen Leute.»
Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff haben in «Die Fluchttunnel von Berlin» (Propyläen Verlag) deren Geschichte umfassend aufgearbeitet. Infos zu den «Berliner Unterwelten»: www.berliner-unterwelten.de.