Trotzdem lässt sich eine gewisse Ordnung ins obszöne Vokabular bringen, wenn man vier Hauptkategorien unterscheidet: das Heilige, der Körper, die Reinheit und den Stamm. Daraus leiten sich die Beschimpfungsvarianten ab: Entheiligen, Sexualisieren, Beschmutzen und Verunglimpfen. Der amerikanische Kognitionswissenschafter Benjamin K. Bergen, der ein Buch mit dem hübschen Titel „What the F“ veröffentlicht hat, nennt dieses Kategorisierungsschema das „Holy-Fuck-Shit-Nigger-Prinzip“. [1]
Holy
Das Holy-Prinzip ist geläufiger als Profanierung. Profan bedeutet ursprünglich „vor dem heiligen Ort“: ausserhalb des Sakralen. Entzieht man also ein geweihtes Wort diesem Schutzbereich, ist das so, als würde man ihn betreten und entweihen. Das Holy-Prinzip funktioniert natürlich nur in religiös geprägten Gesellschaften mit ihren Tabus. Man braucht nicht gleich an den Islam zu denken. Das europäische Mittelalter stand ganz im Zeichen und unter der Fuchtel des Heiligen. Zentral war der Schwur – ein naher Verwandter des Fluches. Man leistete einen Eid „bei Gott“. Wer also fluchte, brach den Eid. Man beleidigte Gott selbst, wenn man seinen Namen nannte. Mittelalterliche Beleidigungen beginnen häufig mit „Bei Gott ...“. „Bei den Knochen Gottes!“ war einer der schlimmsten Flüche. Ein Eid, so dachte man, besiegelt eine intime Beziehung von Mensch und Gott. Wer also bei Gottes Knochen, seinem Blut oder seinen Augen schwört, verletzt Gott ganz direkt. Man flucht ihn in Stücke.
Fuck
Im Fuck-Prinzip spiegelt sich das ambivalente Faszinosum des Sexuellen („fascinum“ bezeichnet im alten Rom einen erigierten Penis, als Schutz vor dem bösen Blick). Zugleich verboten und begehrt, unrein und verehrt, sittsam verhüllt und unsittlich enthüllt – das allgemeine Merkmal tabuisierter Dinge. Das Lateinische spricht von „nuda verba“ – als ob mit dem Wort auch die bezeichneten Schamteile enthüllt würden. Im alten Rom – allgemein nicht gerade bekannt als Ort der Prüderie – galt die explizite Nennung von Genitalien und entsprechenden sexuellen Akten als schlimmste Obszönität. Was paradox anmutet, kennen wir doch gerade aus der römischen Antike eine wahre Enzyklopädie des Obszönen und Vulgären; das Wort „futuo“ soll damals grassiert haben wie heute „fuck“.
Shit
Das Shit-Prinzip zieht in den Dreck. Dreckwörter atmen den Geruch des Körpers, seiner Ausscheidungen, Ausflüsse, Ausdünstungen. Aber eigentlich ist Dreck im übertragenen Sinn gemeint. Reinheit, so schrieb die britische Anthropologin Mary Douglas, ist nicht primär eine Kategorie der Hygiene, sondern des kulturellen Schutzes. Mit Schmutz verbindet schon der Primitive das, was eine Ordnung gefährdet oder was nicht eindeutig ist. Wer sich zweideutig ausdrückt, hat nicht nur einen schmutzigen Mund, sondern womöglich schmutzige, subversive Absichten.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Dreck, sagt man, ist Materie am falschen Ort. Bewirft man jemanden mit Dreckwörtern, signalisiert man zugleich, dass er am falschen Ort steht, und zwar aus den diversesten Gründen: ethnische Zugehörigkeit, Religion, Hautfarbe, Nationalität, Alter, politische Gesinnung, Gender, Beruf, physisches oder intellektuelles Vermögen, und was auch immer. Und spätestens hier wird es mulmig.
Nigger
Das Nigger-Prinzip ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst, seit sie in Stämmen den Planeten bevölkert. Mit dem Stamm kommt die Stammeszugehörigkeit, und mit ihr das Beschimpfen des Anderen als Nichtzugehörigen. Einen ersten Höhepunkt der Arroganz fand das Nigger-Prinzip im klassischen antiken Schimpfwort „Barbar“: jener, der nicht die griechische Sprache spricht. Auch hier erkennen wir das Merkmal des Schmutzes, des Fehl-am-Platz-seins. Der Nigger gehört nicht zu uns. Zur Stigmatisierung eignen sich nicht nur rassische Eigenheiten – Schlitzauge, Kanake, Kaffer –, sondern generell kulturelle Andersartigkeiten wie Esssitten (Tacofresser, Makkaroni, Maiser, Kraut), Benehmen (Sackkratzer (meist Männer aus mediterranen Gegenden), Gummihals (für Deutsche: Kopfnicker), Spanner (lustig auf Türkisch: röntgenci = Röntgenarzt)), Kleidung oder Frisur (Schleiereule, Turbanaffe, Vokuhila, Jugopinsel), Randgruppen und Minderheiten (Hartzer, Grufti, Junkie, Penner), mentale Fähigkeiten (Mongo, Psycho, Spasti, Sperg, Tard (englisch, Abkürzung für „asperger“ und „retarded“)).
Gebrauch und Erwähnung
Beschimpfen ist so etwas wie die Verbalisierung eines körperlichen Übergriffs, etwa Watschen, Spucken, sexuelle Gewaltanwendung. In der Verwendung von Schimpfwörtern beobachtet man immer noch die uralte magische Vorstellung, dass bestimmte Wörter eine intime Beziehung zu dem haben, was sie bezeichnen. An der „Scheisse“ hängt eben das Stinkige, Klebrige, Faulige, Eklige der Fäkalie mehr als am „Exkrement“ oder am „Gagga“; ebenso schwingt im „ficken“ das Verderbte, Unzüchtige, Verbotene mehr mit als im „kopulieren“, „Verkehr haben“ oder im biblischen „erkennen“. Entscheidend am Schimpfwort ist nicht – wie die Linguisten sagen – das Denotieren, sondern das Konnotieren: das Mitschwingenlassen von Nebenbedeutungen. Genau das fügt dem Schimpfwort das Pikante bei.
Zweitens gibt es den Gebrauch und die Erwähnung eines Wortes. Das hat uns ja der Satiriker Böhmermann schön vordemonstriert. Erdogan einen „Ziegenficker“ nennen, ist Gebrauch des Wortes. Wenn man aber sagt, dass Erdogan „Ziegenficker“ zu nennen eine Straftat bedeuten kann, dann ist das Erwähnung. Und Erwähnung ist kein Delikt. Ein kleines sprachphilosophisches Propädeutikum stünde dem türkischen Staatschef gut an, nur schon, um seinem Auftreten etwas vom Grand-Guignol-Charakter zu nehmen. Aber wahrscheinlich hat er anderes zu tun.
Schigugegl
Schimpfen ist gut und gibt eine gute Laune. Psychologen sprechen von der kathartischen oder stressabbauenden Wirkung. Jeder hat auch sein Privatvokabular an Invektiven, wie etwa die entsicherte Fluchgranate Kapitän Haddocks: Vegetarier, Technokrat, Bahnhofspenner, Karnikel, Sandfloh, Rollschwanzaffe, Knastologe, Höllendackel, Pantoffeltierchen, Mückenhirn in Aspik, gummibeiniger Satansbraten und ad libitum.
Man kann praktisch jedes Wort zum Schimpfen umrüsten. Bei bestimmten, vom religiösen Gewissen verriegelten Geistern genügt schon „Unterhose“. Soviele Zungen, soviele Flüche. Die meisten von uns tragen wohl die biografische Erbschaft ungoutierter Erfahrungen oder Bekanntschaften mit sich herum, die sich sehr gut als Reservoir für idiosynkratisches Lästern eignet.
Umgekehrt funktioniert das Prinzip auch: Man verschafft dem Schimpfwort einen neuen Normalgebrauch, man nimmt es in eigenen Besitz. Schwule nennen sich Schwule und „entschimpfen“ dadurch das Wort; desgleichen die Lesben, englisch „dykes“. Als „Dykes on Bikes“ bezeichnen sich Motorradfahrerinnen in den USA jetzt stolz und genderbewusst. Oder Rapper nennen sich „Nigga“. Wie der verstorbene Tupac Shakur, eine Galionsfigur der Rapper-Szene, erklärte: „Nigger waren die, die am Seil von den Bäumen hingen; Nigga sind jene, die goldene Seile am Hals tragen und in den Clubs herumhängen.“ „Nigga“ hat es sogar schon zum Pronomen-Status geschafft: „A nigga proud of myself“ bedeutet „Ich bin stolz auf mich“. Das kann allerdings nur ein Nigga sagen.
Verlust der Kreativität
Wichtig ist, dass ein gewisser kreativer Imperativ in aller Profanität obwaltet; eine gewisse Portion Unerhörtheit. Heute stellen Sprachforscher – „Malediktologen“ – wie Roland Ris oder Reinhold Aman eine Schimpfwortverarmung fest. So wie das Holy-Prinzip allmählich ausser Gebrauch gekommen ist, so konstatiert man nun dasselbe für das Fuck- und Shit-Prinzip. Wenn „fuck“ und „shit“ von den Fluchpapageien in den Social Media ständig dahingeplappert werden, liefern sie nichts Anstössiges mehr.
Das hat eine unliebsame, ja gefährliche Konsequenz: die Verschiebung zum Nigger-Prinzip- Wenn es früher hiess „On est toujours le juif de quelqu’un“, so wird jetzt Finde-deinen-Nigger nachgerade zum Gesellschaftspiel. Nigger: das können auch Behinderte sein, Alte, Marginalisierte, Migranten, der Fanclub der gegnerischen Mannschaft, der beruflich Unterstellte, der Nachbar. Das Nigger-Prinzip eignet sich vorzüglich als Vorschule zu physischer Gewalt. Es sitzt tief in unseren Schädeln. Und mit Regulierungen kommt man ihm nicht bei: es verbieten heisst ihm den Boden zu ebnen.
Holy-Fuck-Shit-Nigger-Politician
Möglicherweise böte da eine weitere Kategorie Gelegenheit zum kreativen Dampfablassen: die Politik, vor allem auf Twitter. Der gegenwärtige Präsident der USA twittert ja wie ein Veitstänzer. Bei vielen Politikern genügt allein die Namensnennung oder -umbenennung. Es macht den Anschein, dass sie uns ein neues ergiebiges Reservoir an Schimpfwörtern bereitstellt. Legendär schon der SPD-Politiker Herbert Wehner, der den CDU-Mann Jürgen Wohlrabe in „Übelkrähe“ umtaufte. „Idi Alpin“ für Franz Josef Strauss ist noch in guter Erinnerung. Oder „Silvio Siliconi“. Heute spricht man von „Angüla Mürkel“, der „Erdo-Gans“. „Erdoganen“ bedeutet übertriebenes Beleidigtsein, ein „Putin-Hemd“ ist ein nackter männlicher Oberkörper.
Politiker sei Dank schlägt die Kreativität des Schmähens Purzelbäume. Man werfe auch einen Blick in den „Urban Dictionary“ [2]; oder im Deutschen in die „Mund Mische“ [3]. Guter Geschmack ist hier natürlich nicht die Leitlinie, wie in allen Feuchtgebieten der Sprache. Nicht selten stösst man auf bloss Widerliches. Aber das spiegelt ja auch nur die Politik.
[1] Linguisten sprechen auch von den „Big Six“: fuck, shit, piss, cock, cunt, ass.
[2] http://www.urbandictionary.com
[3] https://www.mundmische.de/lexikon/