Frank Gehry, 85-jährig, weltberühmter Architekt, aus Kanada stammend, seit Jahrzehnten in Los Angeles domiziliert, hat am westlichen Rand von Paris, im Bois de Boulogne, ein spektakuläres Kunstmuseum gebaut. Finanziert von einem der reichsten Männer Frankreichs, dem Chef des Louis Vuitton/Moët Hennessy- Unternehmens (LVMH), Bernard Arnault, zeugt der neue Kulturtempel in mancher Hinsicht von Gigantismus, von einem bis zum Aeussersten getriebenen Kreativitäts-Furor. Um die 140 Millionen Euro soll der Bau Herrn Arnault gekostet haben, 14 Jahre haben die Arbeiten gedauert. Seit Ende Oktober kann das Haus besichtigt werden.
Wer Gehrys Prestige-Bauten kennt, - das Walt Disney Konzerthaus in Los Angeles oder das Guggenheim-Museum in Bilbao oder das Vitra Design Museum in Weil – wird, wenn er an der Metro-Station Les Sablons ausgestiegen, ins Bois, vorbei am Jardin d´ Acclimatation spaziert ist und dann plötzlich vor dem Gebäude steht, erstaunt – und nicht erstaunt sein. Nicht erstaunt, weil Gehrys architektonischer Stil, seine „Handschrift“, unverkennbar ist. Erstaunt, weil es Gehrys Werke charakterisiert, dass jedes auf seine Art neu- und einzigartig wirkt.
Immer in Bewegung
Man braucht ganz schön Zeit, um eine Vorstellung allein von der Hülle des Museums zu bekommen. Sie dehnt sich über so viele Ecken, Nischen, Seiten, Kurven, Fassaden aus! Man sollte das Gebäude umrunden, so gut es geht, abschreiten, die Blickwinkel und –richtungen ständig ändern und überprüfen, um das wahrzunehmen, was die einen, poetisch, eine Glaswolke, die andern ein Schiff mit geblähten Segeln nennen. Mehr als 3500 Glaselemente bedecken das Haus und je nach Wetter, natürlicher Beleuchtung, wirken sie, als ob sie ständig in Bewegung wären. Das ganze Konstrukt ruht in einem Becken. Ueber eine breite Treppe fliesst Wasser. Wenn der Wind bläst, Wolken vorbeiziehen, das Licht wechselt, kann sich die Illusion einstellen, dass da ein Riesenschiff am Auslaufen ist.
Über normale Treppen, Rolltreppen, Aufzüge gelangt man im Inneren der Fondation LVMH (so der offizielle Namen der Stiftung, der das Museum gehört) in die elf geräumigen Ausstellungsräume, die das Museum beherbergt. Weisse und crèmefarbene Betonwände kontrastieren mit den beige- oder rosafarbenen Steinböden; Stahlgerüste, Holzstreben, Holztüren, Chrom, Blech spiegeln sich in den Glasfassaden. Verschiedenenorts gibt es Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Glasschiff, bepflanzte Terrassen, von denen aus überraschende Einblicke ins Haus und Ausblicke in die Landschaft – ins Défense-Quartier, in den herbstlichen Bois, in den Jardin d´Acclimatation möglich sind.
Hilfe aus dem Centre Pompidou
Schwer vorstellbar, wie ein Architekt und sein Planungsteam ein derart verwirrendes, viel- und kleinteiliges Konstrukt planen können. Wer sich dazu Ideen wünscht, dem bietet sich gegenwärtig und noch bis Ende Januar im Centre Pompidou im Pariser Marais die passende Gelegenheit. Da lässt sich anhand von Fotos, Zeichnungen, Modellen, vor allem dank einem aufschlussreichen Video-Interview, das mit Gehry geführt wurde, ein Stück weit nachvollziehen, was für Wege begangen werden, um von der Eingebung zum sichtbaren, zum gebauten Resultat zu gelangen.
Ein fast kindlich anmutendes Bleistift-Gekritzel, mit Vorliebe am Ort ausgeführt, an dem das Gebäude dereinst stehen soll, initiiert das Werk. Es folgen spielerisch gebastelte Maquetten, immer präzisere Zeichnungen, Modelle. Zu den Paradoxien rund um Gehry gehört, dass der Architekt, ein Baumeister, ein Konstrukteur par exellence, im philosophischen Sinne auch ein „Dekonstrukteur“ ist. Einige der Axiome, die der französische Philosoph Jacques Derrida für seine Theorie der Dekonstruktion aus der Lektüre und Interpretation von literarischen Texten entwickelt hat, können durchaus zur „Lektüre“ von Gehrys Baustil verwendet werden.
Auf dem Feld der Praxis übernimmt in einer bestimmten Phase des Prozesses ein speziell für Gehrys Bedürfnisse entwickeltes, dreidimensionales Computerprogramm die Führungsrolle. Ausführungsdetails, Materialien, die Machbarkeit des Ganzen werden berechnet. Die Komplexität und Dimension der Bauten, die zahlreichen in den letzten Jahren ausgeführten Aufträge legen es nahe, dass das „Büro“ Gehrys längst von Hunderten von Architekten, Ingenieuren, Informatikern, Zeichnern bevölkert sein muss. Gehrys Visionen können, allein im Planungsstadium, nur von einem grossen, ausgewiesenen Team realisiert werden. Wenn man der instruktiven Ausstellung im Centre Pompidou etwas vorwerfen kann, dann die Unterschlagung dieses Teams: es würde gewiss nicht schaden, wenn die Ausstellungsmacher das Mitwirken der zahllosen Gehilfen besser sichtbar gemacht hätten; ohne solche Entwicklungshilfe wären die genialischen Kritzeleien des Meisters nichts wert.
Was soll werden?
Zurück in der Fondation im Bois de Boulogne stellen sich Fragen: was werden wir hier in Zukunft zu sehen bekommen? Wie wird das Museum bespielt? Was jetzt zu besichtigen ist, enttäuscht und wird der kunstvollen Hülle keineswegs gerecht. Zufällig wirkende grossformatige Bilder, Fotos, Plastiken, Objekte, Videoinstallationen; moderne Allerweltskunst aus den letzten Jahrzehnten. Der grosse Gerhard Richter, dem man die Ausstellungshoheit über einen Saal eingeräumt hat, stellt ein Bild mit einem Hirsch im Wald in den Mittelpunkt. Das wirkt, an diesem Ort, nicht einmal ironisch, nur lächerlich. Es dominieren Ausstellungsobjekte, die in irgendeinem Zusammenhang mit Bau, Bauprozess, Auftragsgeberschaft stehen, was doch sehr nach Selbstbeweihräucherung der Stifter aussieht. Bernard Arnault verfügt, wie andere steinreiche Chefs von Luxusunternehmungen, über eine umfangreiche Sammlung moderner Kunst. Teile davon sind als ständige Leihgabe im Museum vorgesehen.
Indessen darf gehofft werden. Arnault hat dafür gesorgt, dass sein Museum eine starke, international anerkannte Leitung bekommt. Suzanne Pagé übernimmt diesen Job. Sie hat mehr als dreissig Jahre am Musée d´Art Moderne in Paris gearbeitet und gilt im Bereich moderner Kunst-Aussteller als Koriphäe. Niemand zweifelt an ihrem Sinn für Qualität und sie ist es schon ihrem Ruf schuldig, das neue Haus unabhängig, kritisch zu kuratieren. Auf die ständigen und die geplanten wechselnden Ausstellungen darf man also gespannt sein.