Die prowestliche moldauische Präsidentin Maia Sandu hat schwere Stunden hinter sich. Doch jetzt kann sie aufatmen. Das von ihr angeregte EU-Referendum hat sie äusserst knapp gewonnen. Es gibt Beweise, dass sich Russland vehement in den Abstimmungskampf eingemischt hat.
Soll der von Maia Sandu eingeschlagene Pro-EU-Kurs des Landes in der Verfassung festgeschrieben werden? Darum ging es bei der gestrigen Volksabstimmung. Russland wehrte sich mit einer energischen Desinformationskampagne dagegen.
Am Montag früh um 07.00 Uhr sah es schlecht aus für die Präsidentin. 80 Prozent der Stimmen waren ausgezählt. 55 Prozent der Stimmenden hatten sich aufgrund der vorliegenden Stimmzettel gegen den vorgeschlagenen EU-Kurs ausgesprochen. Schon titelten die Medien: «Schwere Niederlage für Sandu» und «Ein EU-Beitritt rückt in weite Ferne» und «Ein Sieg für Putin» und «Putin jubelt».
Auch um 10.00 Uhr sah es nicht gut aus. 91 Prozent der Stimmen waren zu diesem Zeitpunkt ausgezählt. 53 Prozent sagten Nein zur EU.
Dann, kurz nach 11.00 Uhr hiess es plötzlich, das Ergebnis sei «auf Messers Schneide». Nach Auszählung von 98,3 Prozent der Stimmzettel sprachen sich laut Wahlkommission 50,08 Prozent der Stimmenden für den vorschlagenen pro-europäischen Kurs von Maia Sandu aus. Doch das Zittern ging weiter.
Schliesslich kurz vor 13.00 Uhr die Erlösung für die Präsidentin. Die Wahlkommission teilt mit, dass sich nach Auszählung von 99,41 Prozent der 1,4 Millionen Stimmen 50,39 Prozent für den EU-Kurs ausgesprochen hätten, 49,61 hätten mit Nein gestimmt.
Eine Barriere gegen Putin
Die Republik Moldau *), eine frühere Sowjet-Republik, liegt eingequetscht zwischen der Ukraine und Rumänien. Zwar ist sie mit ihren 2,5 Millionen Menschen und ihren 33’000 Quadratkilometern klein, doch geopolitisch ist sie sehr wichtig. Sie stellt neben der Ukraine eine weitere wichtige Barriere gegen die imperialistischen Gelüste des Kreml-Herrschers dar.
Sowohl die EU als auch die Nato sind überzeugt, dass sich Putin nicht mit der Ukraine begnügen will, sondern auch die Republik Moldau im Visier hat. Dafür gibt es zahlreiche Hinweise.
Immer wieder hat Russland versucht, das kleine Land zu destabilisieren. Jetzt hatte Moskau beispiellos die Abstimmung zu manipulieren versucht. Das Land wurde mit russlandfreundlicher Propaganda und Fake News geflutet. So habe Maia Sandu dem Westen zugesagt, dass alle moldauischen Männer unter 60 Jahren eingezogen und im Krieg im Donbass gegen die Russen eingesetzt würden. Zudem, so wurde behauptet, sei die Ausübung einer Religion künftig verboten und alle Kirchen würden geschlossen.
300’000 Stimmen gekauft
Nach Angaben moldauischer Sicherheitsbeamter hat der Kreml hundert Millionen Euro für anti-westliche Propaganda eingesetzt. Ausserdem sind laut Maia Sandu 300’000 Stimmberechtigte mit viel Geld bestochen worden. «Wir haben es mit einem beispiellosen Angriff auf die Freiheit und die Demokratie in unserem Land zu tun», sagte Sandu in der Nacht zum Montag.
Erwiesenermassen mitgemischt hat der Putin-Freund und moldauische Oligarch Ilan Shor, der in Moldau wegen Geldwäsche zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde und jetzt im russischen St. Petersburg lebt. Auch er setzte nach Angaben der moldauischen Sicherheitskräfte Dutzende Millionen ein, um die Stimmberechtigen zu einem Nein zur EU-Vorlage zu bewegen.
Gleichzeitig mit der EU-Abstimmung fanden Präsidentschaftswahlen statt. Maia Sandu erzielte mit rund 42 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis. Ihr prorussischer Gegenkandidat Alexandru Stoianoglo kam auf rund 30 Prozent. Da keiner der Kandidaten das absolute Mehr erreicht hat, findet in zwei Wochen eine Stichwahl statt. Elf Kandidaten hatten sich um das Amt beworben. Dass Sandu im ersten Wahlgang die absoluter Mehrheit nicht schafft, war erwartet worden.
Sandu regierte bisher ihr Land aus einer Position der Schwäche heraus. Der russische Druck, die Kämpfe zwischen pro-westlichen und russlandfreundlichen Kräften im Land machten ihr das Regieren schwer. Zudem übt sie schon längst nicht mehr die Kontrolle über das ganze Staatsgebiet aus.
Nach der Unabhängigkeit der Republik Moldau im Jahr 1991 hat sich ein Landstreifen östlich des Dnister-Flusses vom Mutterland abgespaltet und sich als «Republik Transnistrien» etabliert (auf der Wikipedia-Karte schraffiert eingezeichnet). Sie wird einzig von Russland anerkannt. In Transnistrien befinden sich riesige russische Munitionslager. Zudem hat der Kreml dort Panzer und Tausende russische Soldaten stationiert. Sie stellen für die Republik Moldau eine latente Gefahr dar.
Doch nicht nur Transnistrien hat sich vom Mutterland abgespaltet.
Im Süden des Landes hat sich das pro-russische «autonome Territorium» Gagausien (rötlich eingezeichnet) selbständig erklärt. Putin hatte im Mai die gagausische Gouverneurin Yevgenia Gutsul empfangen. Sie bat den Kreml-Chef um Schutz «vor dem Westen». Maia Sandu würde den Gagausiern einen westlichen Kurs «aufzwingen», sagte sie. Auch in Gagausien hat der Kreml begonnen, militärisches Material und Soldaten zu stationieren.
Maia Sandus Sieg beim EU-Referendum – auch wenn er hauchdünn ausgefallen ist – wird ihre bisher schwache Position etwas stärken. Doch ein grosser Befreiungsschlag ist der Sieg nicht. Illusionen macht sie sich keine.
Das Land destabilisieren
Um der russischen Bedrohung zu entgehen, versuchte die in Harvard studierte Maia Sandu ihr Land im Westen und in der EU einzubinden. Nachdem Moldau im März 2022 ein Beitrittsgesuch eingereicht hatte, hat der Europäische Rat dem Land den Status eines Bewerberlandes zuerkannt. Im Dezember 2023 haben die EU-Führungsspitzen beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit Moldau aufzunehmen. Das ist dem Kreml ein Dorn im Auge, deshalb zieht er alle Register, um einen EU-Beitritt der Republik Moldau zu verhindern.
Das wird er auch nach dem jetzigen EU-Referendum tun. Moskau wird alles tun, um das Land zu destabilisieren. Viele russlandfreundliche Kräfte stehen dazu bereit. Auch wenn Maia Sandu in zwei Wochen im zweiten Wahlgang wieder zur Präsidentin gewählt wird – was wahrscheinlich ist – wird sie es schwer haben. Sie rechnet damit, dass die Kreml-freundlichen Kreise, die starke russische Opposition im Land, aber auch kriminelle Banden, jetzt erst recht mobilisiert werden.
Da die moldauischen Streitkräfte nur über gut 5’000 aktive Militärangehörige verfügen, wäre eine russische Invasion von Transnistrien und Gagausien aus ein leichtes Spiel.
*) «Moldau» wird ohne Artikel genannt. DIE Moldau ist ein Fluss, der durch Tschechien, aber nicht durch die Republik Moldau fliesst. Das Land wird häufig als «Moldawien» bezeichnet. In der Schweiz heisst der Staat offiziell «Republik Moldova», wird aber neuerdings auch häufig «Republik Moldau» genannt. (Englisch: Republic of Moldova, Französisch: République de Moldavie).