Man ist Teil einer Masse in Bewegung, in der alle persönlichen Tätigkeiten – ein Zugticket bestellen, auf den Zug warten, sich im Abteil einrichten, Essen, Schlafen, Teetrinken, Schlangestehen vor der Zugstoilette, Schwatzen – Teile eines kollektiven Aktes sind. Ich schaue um mich und sehe, wie mein persönliches Verhalten von Dutzenden Anderer ausgeführt wird, als äfften sie mich nach.
56 Schalter mit Menschentrauben
Das kollektive Abenteuer einer Zugfahrt beginnt bei der Reservation. Buchungsschalter sind in Indien immer voll, und ich sah dies nicht nur an den Menschentrauben, die sich vor jedem der 56 Schalter im CST-Hauptbahnhof von Mumbai gebildet hatten.
Die Fahrt nach Hospet in Zentralindien war zwar erst in zwei Monaten angesagt, doch als ich die Tickets in den Händen hielt, waren zwei von uns vier Passagieren bereits auf der Warteliste gelandet. „Warum haben Sie nicht früher gebucht?“ gab der Beamte vorwurfsvoll zurueck, als ich nachfragte. „Kommen Sie in vier Wochen wieder; vielleicht sieht es dann besser aus“.
Tatsächlich, wir rutschten in die ersten Zehn, und als wir einen Tag vor Abreise noch einmal vorbeigingen, baumelte nur noch einer im Leeren. Ein letzter Versuch eine Stunde vor Abreise brachte schliesslich die Erlösung: Auch der letzte hatte einen Schlafplatz.
TT wie Ticket Collector
Das Gedränge vor den Schaltern erspart einem zumindest Stossen und Sperren beim Einsteigen – man hat ja seinen Sitz. Doch kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, beginnt das Feilschen. Der ‚TT‘, wie der ‚Ticket Collector‘ in unnachahmlich indischer Logik abgekürzt wird, beginnt seine ‚Consolidation‘. Die meisten Gruppen (Inder scheinen nur in Gruppen zu reisen) wurden durch die Warteliste auseinandergerissen, und nun galt es, sie wieder zusammenzubringen.
Vor dem Sitzplatz des TT bildete sich erneut eine Warteschlange. Bei uns trugen die Plätze die Nummern 4, 11, 12, 42. „Sir, wir sind eine Reisegruppe. Können wir nicht die Sitze 2,3 und 5 haben, sodass wir zusammensitzen können?“ Die Tickets wurden überprueft, verglichen, Passagierlisten raschelten. „Nein, geht leider nicht, Passagier 2 ist 75-jährig, und Platz 42 ist eine obere Koje, nur mit der Leiter erreichbar“. Oder: „Sorry, Plätze 2 und 3 sind ein Ehepaar, die wollen sicher zusammenbleiben“.
Wir hatten Pune erreicht, die Sonne war untergegangen, drei der insgesamt 16 Fahrstunden waren vergangen, als der TT seinen Kugelschreiber im durchgescheuerten schwarzen Veston endlich versorgen konnte – sein Nachfolger würde eine ruhige Nacht haben.
Inder reisen für ihr Leben gern
Doch weit gefehlt. Inzwischen hatten sich nämlich Passagiere auf freigewordenen Sitzen eingerichtet, und bei den nächsten drei Stationen – um 22 Uhr, und zweimal nach Mitternacht – stiessen neue Passagiere hinzu. Sie schwangen ihre Reservationsnummern und beharrten lautstark auf ihrem Liegerecht. Es es war am TT, die Passagiere aufzuscheuchen, die sich in ihre Decken eingewickelt hatten und so taten, als schliefen sie tief. Dafür sassen alle anderen im Abteil auf.
Inder reisen für ihr Leben gern – kein Wunder, wenn man an die engen Behausungen denkt, in denen die meisten leben. Bahnhöfe sind daher viel mehr als eine blosse Durchgangsstation. Und da Verspätungen zur Regel gehören, lässt man sich nieder, man isst, schläft, Kinder spielen Versteck, Mütter überwachen, auf dem Boden sitzend und umgeben von Koffern, Töpfen und Decken, ihre Brut, Männer finden jemanden zum Schwatzen.
Das war die Szene im alten ‚Victoria Terminus‘ in Bombay. Als ich beim Halt um 23 Uhr in Sholapur auf dem Bahnsteig die Füsse vertrat, hatte ein Kulissenwechsel stattgefunden: Er glich nun einem Nachtlager. Überall lagen Gestalten herum, das Hüfttuch über Kopf und Körper gezogen, das Reisebündel als Kopfkissen, die schlafenden Kinder geschützt in der Koerperbeugung der Mutter liegend.
63 000 Kilometer Gleise, die das Land zusammenhalten
Sieben Stunden später, als wir in Guntakal ausstiegen, hatte sich der Bahnsteig in eine dampfende, zischende Küche verwandelt. Nicht weniger als 14 Gasflammen zählte ich, über denen Idlis und Sambar gekocht wurden. Die schlaftrunkenen Passagiere zirkelten an den Verkäufern vorbei, die ihnen in der Zeitung von gestern duftenden Kokos-Chutney unter die Nase hielten.
Fast gleichzeitig war auch der Delhi-Bangalore-Express eingetroffen, und – wir warteten auf den Anschluss von Hyderabad – ich hatte Zeit, den Strom von Reisenden zu beobachten.
Es waren Saisonarbeiter und Pilger, Touristen aus Kolkata und Soldaten auf Urlaub, einen Sadhu erblickte ich und Frauen mit einem Bündel auf dem Kopf und einem Kind auf der Hüfte, dazwischen die roten Turbane der Kulis, denen Geschäftsleute und Familien hinterher hasteten. Und ich ahnte, wie viel mehr die ‚Indian Railways‘ sind als ein blosses Transportunternehmen. Sie sind ein Kreislaufsystem von 63 000 Streckenkilometern, das dieses Land zusammenhält, mit seinen Pilgern und Politikern, den 400 Millionen Wanderarbeitern, den Mythen von Bhagavadgita und Bollywood – und dem Dreck, der jede Geleiserampe in Indien ziert.
Eisenbahnminister - ein begehrter Posten
Erstaunt es, dass das Eisenbahnministerium eines der begehrtesten Portefeuilles für einen populistische Politiker ist, der dem Parlament jedes Jahr sein eigenes Budget vortragen darf? In dem der Minister jeweils neue Haltestellen und Strecken ankündigt, die – ein Wunder! – meist in seinem Wahlbezirk liegen? Mit 1.6 Millionen Angestellten ist die Indische Eisenbahn einer der grössten Arbeitgeber der Welt. Selbst ‚Class Four‘-Jobs – Fensterputzer und Teeverkäufer etwa – sind heiss begehrt.
Als vor einigen Jahren in Mumbai 35 000 Stellen ausgeschrieben wurden, kamen die Bewerber aus ganz Indien. Eine Gruppe aus Assam wurde kurz vor Bombay von Anhängern einer lokalen Partei an der Bewerbung gehindert, indem sie kurzerhand aus dem fahrenden Zug gedrängt wurden.
Nach vier Tagen in Hampi und Hospet kamen wir in einer zweiten Nachtfahrt am frühen Sonntagmorgen im ‚Bangalore Cantonment‘ an. Draussen fiel Nieselregen, es war unangenehm kühl. Wir schlurften am Stationsgebäuude vorbei, und ich erblickte zwei Anschriften, hoch über den gewölbten Türen.
Western-style und Indian-style
Die eine lautete ‚Railway Retiring Room‘, von dem ich aus Erfahrung wusste, dass er nicht nur einen Ankleideraum und ein Schlafzimmer verbarg, sondern auch die Wahl zwischen zwei Toiletten bot, ‚Western-style‘ und ‚Indian-style‘. Daneben stand über der Tür ‚Gopal Free Lending Library & Reading Room‘. Ich wäre am liebsten gleich dort geblieben, trotz der 30 Stunden Zugfahrt. Oder wegen ihnen.