Es ist 12.30 Uhr, ein sonniger Donnerstag. Tausende haben sich vor der venezianischen Basilika Santi Giovanni e Paolo (San Zanipolo) versammelt. Weihrauch liegt in der Luft. Das italienische Fernsehen Rai überträgt live. Das Orchester der „Fenice“ spielt, flankiert vom Rai-Fernsehchor.
Der 88-Jährige, der hier im Sarg liegt und wie ein Staatspräsident geehrt wird, war neun Tage zuvor in New York gestorben. Da er Venedig liebte, wollte er hier begraben sein. „Es war kein Begräbnis", schreibt später die venezianische Zeitung Il Gazzettino, „sondern ein fröhlicher Abschied, so wie es die griechisch-orthodoxe Liturgie vorschreibt.“
Dichter, Schauspieler, Musiker
Nach der Zeremonie in der Basilika wird der mit Nelken bedeckte Sarg von Igor Strawinsky auf eine Gondel gesetzt und feierlich auf die Toteninsel San Michele gerudert.
San Michele liegt 300 Meter vor Venedig. Die rechteckige, winzige Insel besteht fast ausschliesslich aus einem Friedhof. Neben Tausenden Venezianerinnen und Venezianern sind hier berühmte Persönlichkeiten begraben: Schriftsteller, Dichter, Schauspieler, Kardinäle, Komponisten, Dirigenten, Adlige, Maler, Bildhauer, Politiker und andere. Viele Russen liegen hier, so der Dichter und Nobelpreisträger Joseph Brodsky, aber auch der amerikanische Schriftsteller Ezra Pound, ein Bewunderer Mussolinis.
Reifenpannen
Hier also soll der Russe, der im Weissen Haus empfangen und von Picasso gezeichnet wurde, begraben werden – er, „Prinz Igor“, den italienische Medien jetzt als den „grössten Komponisten des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen.
Igor Strawinsky, der auch sehr enge Beziehungen zur Schweiz hatte, war am 6. April 1971 in New York gestorben. Nach der Ankunft auf dem Römer Flughafen Fiumicino wurden die sterblichen Überreste nach Venedig gebracht. Die Firma Carraro aus Villanova di Camposampiero bei Padua war damals die einzige in der Gegend, die einen würdigen Bestattungswagen hatte. Doch die Überfahrt von Fiumicino nach Venedig verlief nicht reibungslos. Zweimal hatte der Mercedes eine Reifenpanne.
Uraufführung in der „Fenice“
Strawinsky war von Venedig fasziniert. Immer wieder besuchte er die Lagunenstadt, wohnte im Hotel „Bauer“ oder im „Hassler“ und verkehrte im „Café Florian“. Zur Biennale hatte er eine enge Beziehung. So führte er 1925 seine Klaviersonate bei den dortigen Weltmusiktagen der ISCM (Internationale Gesellschaft für neue Musik) auf.
1934 dirigierte er an der Biennale sein „Capriccio“. Solist war sein Sohn Soulima. Am 11. September 1951 wählte Strawinsky das Teatro La Fenice für die Uraufführung seiner Oper „The Rake’s Progress“ (Der Wüstling).
„Zu Ehren der Stadt Venedig“
Dann tat er etwas, was viele damals als „Grössenwahn“ bezeichneten. Er „beschlagnahmte“ die Markuskirche. Dort führte er am 13. September 1956 sein Chororchesterstück „Canticum Sacrum“ auf – ein Werk „zu Ehren der Stadt Venedig und zum Lob ihres Schutzheiligen Apostel Markus“.
Angelo Roncalli, der damalige Patriarch und spätere Papst Johannes XXIII., musste die Einwilligung dazu geben. Der Inszenierung gingen wochenlange Vorbereitungen voraus. Immer wieder wurde die Akustik in der Kirche getestet. Auf der Piazza San Marco, dem Platz vor der Kirche, wurden riesige Lautsprecher aufgestellt, damit auch Aussenstehende in den Genuss der Aufführung kommen konnten.
„Tiefe Künstlerfreundschaft“
Blenden wir zurück. Strawinsky wurde 1882 in der Nähe von St. Petersburg geboren. 1910 reiste er erstmals nach Paris. Bald hat er eine enge Beziehung zur Schweiz, vor allem zum Westschweizer Dirigenten Ernest Ansermet. Die beiden trafen sich erstmals 1912 in Montreux. Biografen sprechen davon, dass sich zwischen den beiden eine „tiefe Künstlerfreundschaft“ entwickelte. Strawinsky lebte nun vorwiegend am Genfersee, wo er einige seiner Meisterwerke realisierte.
Wichtig für ihn war der ebenfalls in St. Peterburg geborene Impresario und Kunstkritiker Sergei Djagilew. Die beiden arbeiteten lange Zeit eng zusammen. 1910 brachte die Premiere von „Der Feuervogel“ beiden internationale Anerkennung.
Tumult im Theater
In der Schweiz komponierte er auch das Ballett „Le Sacre de Printemps“, das 1913 in Paris uraufgeführt wurde und einen der grössten Theaterskandale verursachte. Bisher nicht gewohnte Rhythmen, Harmonien, Klangfarben und Melodien entfachten im Théâtre des Champs-Elysées am 29. Mai 1913 einen Tumult.
Teuer gekleidete, reiche Damen und Herren verloren jede Contenance, standen auf die Theaterstühle, johlten und verliessen laut protestierend das Theater. Strawinsky sprach später von der „Schlacht vom 29. Mai 1913“. Das Stück gilt heute als „Schlüsselwerk der musikalischen Moderne“.
Strawinsky und Coco Chanel
Im Publikum sass auch die Modeschöpferin Coco Chanel und war begeistert von dem Stück. Später trafen sich die beiden wieder. Sie lud Strawinsky, seine kranke Frau und seine vier Kinder zu sich ein, damit er ungestört arbeiten könne.
So soll sich zwischen Strawinsky und Coco Chanel eine kurze, leidenschaftliche Liebesgeschichte entwickelt haben. Ein gefundenes Fressen für einen Film. Doch der 2009 veröffentlichte Streifen „Coco Chanel & Igor Stravinsky“ enttäuschte. Ausser einiger schlecht gespielter Sexszenen brachte er wenig.
Strawinsky und C. F. Ramuz
1915 trafen Ansermet und Strawinsky im Lavaux-Winzerdorf Epesses erstmals mit dem Westschweizer Schriftsteller Charles Ferdinand Ramuz zusammen. Zwischen Ramuz und Strawinsky entwickelte sich eine lange Freundschaft. Ramuz sprach zwar kein Russisch, doch beide übersetzten zusammen den russischen Text zu Strawinskys Kammeroper „Renard“ ins Französische. Ramuz war auch beteiligt an „L’histoire du soldat“, die 1918 in Lausanne uraufgeführt wurde.
Nach der bolschewistischen Revolution blieb Strawinsky bis 1920 in der Schweiz. Dann kehrte er nach Frankreich zurück, wo er 1934 die französische Staatsbürgerschaft erhielt. Seine erste Frau starb 1939. 1940 begab er sich in die USA, wo er seine langjährige Geliebte, die russische Malerin, Schauspielerin und Tänzerin Vera de Bosset heiratete. Jahrelang hatte Strawinsky ein Doppelleben geführt. 1946 erhielt er die Staatsbürgerschaft der USA.
Der grosse Igor Strawinsky war von kleiner Statur (1.59 Meter gross). „Er sah aus wie ein Buchhalter“, sagt der Dirigent Marcello Panni gegenüber dem italienischen Magazin „Il Venerdì“. Oft sprach Strawinsky davon, sich in Italien niederlassen zu wollen, in Rom, Mailand oder eben in Venedig. Doch er blieb in den USA. Immer wieder kränkelte er, und vom amerikanischen Gesundheitswesen hielt er mehr als vom italienischen.
Whisky statt Wein
Für seine Italien-Liebe gab er einen Grund an. Seine Geburtsstadt St. Petersburg war im farbigen, neo-italienischen Stil gebaut worden. Die Stadt, das „Venedig des Nordens“ mit seinen Kanälen, prägte ihn und erklärte seine Faszination für Venedig, das Original.
Wie immer kreisen um grosse Zeitgenossen Legenden und Anekdoten. Viele stimmen wohl, andere eher nicht. Er habe selten Wein zum Essen getrunken: nur Whisky. Der Arzt habe ihm das geraten. (Zusammen mit C. F. Ramuz hat er wohl nicht nur Whisky getrunken.) Wenn er im Hotel Bauer abstieg, musste mit Seilen ein Klavier von draussen durchs Fenster in sein Zimmer gehisst werden. Einige Zeitgenossen berichten, dass er neben seiner Freundlichkeit sehr hart und herrschsüchtig sein konnte. Ab und zu soll er überheblich und arrogant gegenüber einfachen Leuten gewesen sein. Vor allem hatte er einen Riecher für Geld.
Geldgierig?
Die Beziehung zu Sergei Djagilew wurde immer schwieriger. „Unser Igor denkt nur ans Geld“, sagte Djagilew. 1929 trennten sich die Wege der beiden, offenbar wegen einer Geldfrage. Eine Anekdote besagt, dass Strawinsky eine amerikanische Jukebox-Firma verklagte, weil einige seiner Stücke in Jukeboxes gespielt wurden. Doch er protestierte nicht, weil seine Musik unwürdig vermarktet wurde, sondern weil die Jukebox-Firma ihm die Rechte nicht bezahlte.
Seine Beziehung zu Geld könnte sich dadurch erklären, dass er nach der russischen Revolution fast alles verloren hatte. Was er komponiert hatte, wurde beschlagnahmt, Urheberrechte wurden gestrichen. Eine Zeit lang lebte er zwischen Frankreich und der Schweiz in Armut.
Zurück in der Heimat
Erst 1962, als er berühmt war, besserten sich die Beziehungen zu seiner Heimat. In der Sowjtunion war er jetzt wieder willkommen. Am 28. September 1962 dirigierte der Achtzigjährige in Moskau das staatliche Symphonie-Orchester der UdSSR.
Seit 50 Jahren liegt nun Strawinsky auf der Toteninsel San Michele, direkt neben seiner zweiten Frau Vera. Unweit davon ist auch Sergei Djagilew begraben. Beide haben einander viel zu verdanken.
Verliebt in den Genfersee
Strawinsky war der Schweiz eng verbunden, nicht nur wegen seiner Freundschaft mit Ernest Ansermet und Charles Ferdinand Ramuz. Immer wieder trat der Komponist und Dirigent in der Schweiz auf. So dirigierte er 1961 im Zürcher Stadttheater (dem heutigen Opernhaus) seine Oper „L’Histoire du soldat“.
Vor allem die Genfersee-Gegend liebte er. Das Auditorium des Kongresszentrums in Montreux ist nach ihm benannt. Ausdruck für die Verbundenheit mit der Schweiz ist auch, dass sich die „Fondation Igor Stravinsky“, die von seiner Urenkelin Marie geleitet wird, nicht in Russland oder Frankreich befindet, nicht in den USA oder Italien: sondern in Genf.
PS: v oder w, i oder y? Der Name Strawinsky wird verschieden geschrieben. Auf Englisch: Stravinsky; auf Französisch: Stravinsky, Strawinsky und Stravinski; auf Italienisch: Stravinskij. Auf Deutsch hat sich Strawinsky eingebürgert.