Gestatten Sie mir, dass ich für einmal ganz privat beginne. In meinem Besitz befindet sich eine kleine Kohlezeichnung, entstanden anfangs der Neunziger Jahre, eines bekannten Schweizer Künstlers. Sie zeigt einen schräg gestellten, umgekehrten Trichter. Oben, an der schmalen Öffnung, steht mit Bleistift geschrieben KUNST, unten rechts, neben der breiten Öffnung, die wie ein Ausguss wirkt, MUSEUM.
Am Theater Basel hat ein kreativer, grossartiger Bühnenbildner (Olaf Altmann) ein ähnlich ironisches Modell nicht nur bühnentauglich, sondern vor allem psychologisch und theatralisch umgesetzt. Die Handelnden dieser "Moritat in zwölf Bildern" von Max Frisch werden durch einen riesigen, die Bühne beherrschenden, umgekehrten Trichter ein- und durchgeschleust - was oben reinkommt, durchläuft in extremer Schräglage meist einen Verwandlungsmodus, kommt unten als Gewalttäter, Verräter, Zyniker, Egomane, eigentlich als : Klärschlamm oder auch Ratte in den Abwassersystemen der Gesellschaft, wieder heraus. Ein Gang auch durch das Unbewusste, der an erschreckende Ziele führen kann.
Herausforderung Bühnenbild
Es ist gewiss unüblich, eine Theaterbesprechung mit dem Bühnenbild beginnen zu lassen. Doch hat dieser beeindruckende optische und ganz in Schwarztönen gehaltene Bühnenrahmen die theatralische Umsetzung durch den Regisseur Stefan Bachmann ganz sicherlich entscheidend beeinflusst.
Der mit Theaterpreisen verwöhnte Bachmann, auf dessen neue Inszenierung man in Basel schon sehnlichst gewartet hatte - vor drei Jahren hatte er hier einen aufsehenerregenden "Wilhelm Tell" realisiert - ist kein Kind von Mutlosigkeit. Sich allein schon an einen so umstrittenen, niemals wirklich mit Erfolg gekrönten Stoff zu machen, spricht für Mut und Neugierde, auch für die Bereitschaft, sich diesem Sog von Verzweiflung und Sinnentleertheit auszusetzen, welcher den ganzen Text durchzieht.
Uraufführfung 1951 - ein Misserfolg
Auf eine Zeitungsnotiz von 1946 hin über einen ungeklärten, scheinbar völlig sinnlosen Mord durch einen unbescholtenen Bürger begann Max Frisch, grübelnd darüber zu schreiben. Zuerst als Prosaskizze in seinem "Tagebuch für Marion", dann als Theaterstück. Die Uraufführung des Stücks "Graf Öderland" in dessen erster Fassung fand dann 1951 im Schauspielhaus Zürich statt und wurde ein Misserfolg.
1956 erschien eine zweite und 1962 schliesslich die dritte, heute gespielte Fassung. Trotz dieser erneuten Anläufe sollte Frisch nie ganz zufrieden gewesen sein. Und doch sagte er, "Öderland" sei sein liebstes Stück, denn "... es hat etwas Geheimnisvolles, das ich selber nicht ganz durchdringe."
Im unsicheren Traumgebiet
Hauptfrage des Stücks ist: "Was bringt einen unscheinbaren, braven Bürger (einen "Normalo" in der heutigen Jugendsprache) dazu, ohne jeglichen Grund einen anderen, ihm völlig gleichgültigen Menschen mit einer Axt zu erschlagen? Diese bis zum Schluss unbeantwortete Frage (die wohl für immer unbeantwortet bleiben muss) lässt den Staatsanwalt auch noch in der Nacht vor der Gerichtsverhandlung verzweifeln, so lange, bis es in seinem gemarterten Geist den berühmten Click macht und sich damit alles ändert.
Er erkennt die Fesseln nicht nur seines Lebens und tritt in das unsichere Gebiet eines Traums ein, bis zum Stückschluss nicht wissend, ob er träume oder wache. Auch er greift zu Axt, mordet und taucht unter. Unter dem Schlachtruf "Es muss sich etwas ändern" schliessen sich ihm Viele an und verleihen ihm mit "Graf Öderland" den Namen einer nordischen Sagen- und Schreckensgestalt. Sie ziehen unter dem Zeichen der Axt mordend durch die Lande, hoffend auf eine Änderung der Verhältnisse, welche ebenso wenig eintritt wie die wohlweislich nie definierte Frage nach dem Resultat.
Dass man aus Trotz lebt ...
Heute brauchen wir nicht viel, um ringsum sogenannte Wutbürger beobachten zu können. Mit Schrecken zu verfolgen sind die "Flash mob"-Ansammlungen in allen Teilen nicht nur Europas, welche sich zu grossen Bewegungen auswachsen. Frisch, dessen Gesellschaftskritik sich seinerzeit noch mehr oder weniger nur auf die damaligen Schweizer Verhältnisse bezogen hatte, bewies hier zum ersten Mal in seinem Werk geradezu prophetische Ansätze.
Diese gehen weit über reine Kapitalismus- und Moralkritik hinaus. Denn der Mensch "erscheint (nicht schon) im Holozän", sondern mit einer niederschmetternden Erkenntnis "... dass man aus Trotz lebt, nicht aus Freude".
Ein unentrinnbarer Sog
Es scheint klar zu sein, weshalb Frisch mit diesem Stück nie ganz zufrieden gewesen ist. Das Stück ist ein Minenfeld an ungeklärten Fragen und Zuständen. Aber, so musste sich auch der Regisseur Stefan Bachmann fragen, wie bringt man sowas glaubhaft auf die Bühne. Und die Antwort liegt in der eingangs beschriebenen Sogwirkung. Ein unentrinnbarer Sog nach unten.
Ausserordentlich wirkungsvoll verstärkt werden alle inneren und äusseren Bewegungen durch die Bühnenmusik von Sven Kaiser mit einem Trio, welche von seelischen Untiefen bis zu Marsch- und Hymnen-Musik das Bühnengeschehen auslotet.
Ensemble in souveräner Schräglage
Das Schauspielensemble, fast pausenlos in der Schräglage des Trichters (der immer mehr zu einem Verlautbarungsorgan wird) gefangen, leistet Grossartiges, allen voran Thiemo Strutzenberger als Staatsanwalt und Linda Blümchen in drei verschiedenen, ihm zudienenden Frauenrollen, ergänzt von Steffen Höld als Mörder, welcher in seinem gleichmütigen Nichtwissen die Rolle zu einer tragischen Clownsfigur hochstilisiert, ohne sich dabei kaum zu bewegen.
Die Premiere im Grossen Basler Haus endete mit dem Sprechchor "Stacheldraht, Stacheldraht ...." und entliess das Publikum um ein intensives Erlebnis reicher.
Nächste Vorstellungen: 21., 23. 2., 14., 31.3.
Fotos: ©Birgit Hupfeld