Jean-Luc Godard ist kein Regisseur, sondern einer der wenigen Filmerfinder. Wie Louis Le Prince, der den ersten Film drehte, wie Louis und Auguste Renoir, die Urväter der Kinotechnik, die vier Brüder Pathé, die Vordenker des Farbfilms, wie Józef Tykociński-Tykociner, der Pionier des Tonfilms, Godard erneuerte die Filmsprache von Grund auf.
Revolutionär und widersprüchlich
Daniel Cohn-Bendit charakterisiert Godard, den er auch aus der Erfahrung eines gemeinsamen Projekts sehr gut kennt, als «den radikalsten, einsamsten, genialsten» Filmmacher, als «zärtlich und hart und nicht ganz koscher». Er habe das Kino revolutioniert, die Schauspieler geliebt und «Sex und Gewalt in einer nie gesehenen Art auf die Leinwand» gebracht, «weil er die Wahrheit im rohen Gefühl erkannte».
Godard ist nur mit Widersprüchen beschreibbar. Etwa auch damit, dass er dem weltweit regelbestimmenden Hollywood-Film mit eigenen Regeln die Stirne bot, David gegen Goliath, dennoch von Hollywood 2010 mit dem «Oscar» für sein Lebenswerk gewürdigt wurde, aber die Statuette mit der brüskierenden Erklärung in Los Angeles stehenliess, «ein Stück Metall» lohne die weite Reise nicht.
Vergebliche Entschlüsselung
Jeder Versuch, die Gegensätze aufzuheben, endet mit dem Ergebnis, Godard sei und bleibe ein Rätsel. Die Besprechungen seiner Filme lesen sich als vergeblich um die Entschlüsselung ringend und so, als hätte jeder Kritiker einen anderen Film gesehen.
Die Geheimnisse schützende Unfassbarkeit und die Gewissheit, in den Filmen wieder und wieder Anderes zu entdecken und gewonnene Erkenntnisse in Frage stellen zu müssen, faszinieren. Godard, der für den Film für eine ungewöhnliche Sprache öffnete und zugleich zerstörerische Formulierungen wählte, lässt nicht los. So streitbar er Film für Film ist, so unbestreitbar gebührt ihm der filmhistorische Spitzenrang als Revolutionär.
Intellektuelle Schärfe und irritierende Schatten
Oder als innovativer Bewahrer. Im Kern erinnert das Credo seines Schaffens an «Roundhay Garden Scene», den ersten Film überhaupt, 1888 vom Chemiker Louis Le Prince in Leeds im Garten seiner Schwiegereltern realisiert. Mit ihnen als spazierenden Hauptdarstellern, mit einfachster Technik, natürlichem Licht, dokumentarisch, authentisch, fragmentarisch, sekundenkurz und die wildesten Fantasien der Betrachter herausfordernd. Ein Godard-Film in nuce.
Was aus der spannenden Simplizität mit intellektuellem Vermögen und künstlerischer Begabung werden kann, sehen wir erstmals im Spielfilm «A Bout de Souffle», für Godard 1960 der Durchbruch. «Ausser Atem» der Titel, ausser Atem auch Godard, den es mit Feu sacré drängte, das klassische Erzählkino zu verlassen, lustvoll, verwirrend und provozierend.
Bis hin zum Vorwurf des Antisemitismus, von dem der Publizist und Philosoph Bernard-Henry Lévy sagt, er sei – typisch für Godard – «komplex, widersprüchlich, ambivalent».
Doppelbürger Frankreichs und der Schweiz
Godard, am 3. Dezember 1930 in Paris geboren, am Genfersee wohnhaft, französisch-schweizerischer Doppelbürger, entstammte einer grossbürgerlichen Familie, besuchte in Nyon die Schulen und studierte an der Sorbonne Ethnologie, Er befreundete sich mit François Truffaut, Jacques Rivette und Erich Rohmer, lebte seine Filmbegeisterung aus in der Cinémathèque Française und schrieb Kritiken für die einflussreiche und die «Nouvelle Vague» auslösende Zeitschrift «Cahiers du Cinéma».
Neben Preisen aus aller Welt erhielt er auch die Auszeichnung des Festivals Locarno für sein Lebenswerk und den Schweizer Filmpreis. Aber der schweizerischen Filmszene eng verbunden war er nie.
Klassiker und Schlüsselfilme
1954 realisierte Godard seinen Erstling, einen Dokumentarfilm über den Bau der Staumauer Grande Dixence, dann folgte Klassiker um Klassiker, oft mit seinen Ehefrauen als Schauspielerinnen, nach Anna Karina Anne Wiazemsky: «A Bout de Souffle», «Une Femme est une Femme», «Le Mépris», «Bande à part», «Une Femme Mariée», «Pierrot le Fou», «Masculin Féminin», «Sauve qui peut (la Vie)».
Schlüsselfilme zum besseren Verständnis seines Schaffens sind «Histoire(s) du Cinéma», 1998, und «Le Livre d’Image», 2018, Wir begreifen Godards Überzeugung, «mit den Händen zu denken» sei «die wahre Bestimmung des Menschen». Er will die Verfremdung und durch sie eine politische Wirkung erzielen, eine linke, radikale, letztlich aus einer pessimistischen Wahrnehmung der Welt.
Das Spiel mit Farben und Licht ist ihm wichtig, Die «denkenden Hände» erweitern die Filmsprache um die Elemente der Mode, der Raumgestaltung, der Typografie und der Grafik. Mit handwerklicher Tüchtigkeit, die ein Künstler auch braucht, soll die Stabilität einer verrückten Collage oder einer waghalsigen Installation auf der Leinwand gesichert sein.
Filme für Cinéphile
Godard konfrontierte das Publikum mit Experimenten. Verlässlich und mit gewagten Überraschungen. Aus dem Meer des Angebots herausragend. Das weckte Film für Film Neugier. Die Anerkennung galt der kühnen Ästhetik Godards, seiner Ernsthaftigkeit, seiner konsequent unerbittlichen Gesellschaftskritik, seinem Wechsel der Perspektiven und der Fähigkeit, seinen eigenen Standpunkt zu überprüfen und zu ändern.
Der Filmerfinder holte sich seine Zuschauer bei den Cinéphilen. Minderheitenkino auf einem Ehrenplatz in der Filmgeschichte.