Der Bielefelder Soziologe Thomas Faist forscht zu Migration und Entwicklung. In seiner Studie über globale Wanderbewegungen zeigt er, dass Migration ein rationales menschliches Verhalten ist und zum Vorteil aller Beteiligten gestaltet werden kann.
Mit dem Stichwort Migration sind bestimmte Bilder fest verbunden: prekär überfüllte Schlauchboote auf dem Mittelmeer, das abgebrannte Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, endlose Kolonnen der von Mittelamerika der US-Grenze Entgegenstrebenden. Migration, so erzählen diese Bilder, führt aus dem Elend ins Elend. Sie bedeutet oft Todesgefahr und erweist sich meistens als illusionäre Hoffnung.
Die Reaktionen der Sesshaften auf die Migrierenden sind divers und unstet. Sie fürchten sich vor der hereinströmenden «Flut» fremder Menschen – und sie heissen andere als Bereicherung willkommen; sie wehren sich gegen Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt – und sie zeigen sich solidarisch mit geflohenen Opfern politischer Gewalt.
Nach und nach findet nun aber auch eine andere Perspektive auf das Migrationsthema Aufmerksamkeit. In Europa werden Arbeitskräfte knapp. Gesundheitswesen, Tourismus, Gastronomie, Transportgewerbe, Handwerk und weitere Bereiche können Stellen nicht besetzen. Gesellschaften überaltern, Sozialsysteme geraten aus dem Lot. Die NZZ hat am 3. Oktober von einem Transportunternehmer berichtet, der in Afrika LKW-Fahrer ausbilden und in die Schweiz holen möchte. Erwähnt sind auch bereits laufende Projekte der EU und Grossbritanniens, die durch Fachkräfte-Partnerschaften mit afrikanischen Ländern allen Beteiligten neue Chancen eröffnen wollen.
Globale Ungleichheiten
Thomas Faist wählt für seine Untersuchungen einen Ansatz, der das Migrationsthema primär als einen Aspekt der globalen Ungleichheiten auffasst. Das hat unter anderem zur Folge, dass er eine im politischen Diskurs wichtige Unterscheidung völlig beiseitelässt, nämlich die zwischen Flüchtlingen und Auswanderern. Die so hochgehaltene und immer wieder eingeforderte Differenzierung zwischen erzwungener und quasi freiwilliger Migration ist nichts Weiteres als eine rechtliche Setzung. Die Genfer Flüchtlingskonvention definiert Fluchtgründe, die Geflüchteten bestimmte Schutzrechte zuerkennen. Wer diesen Kriterien nicht entspricht, ist kein Flüchtling, sondern ein Migrant. Zahlreiche Staaten haben diese Unterscheidung in ihre Rechtssysteme und Politiken übernommen.
Einen umgangssprachlichen Überbegriff zu Flucht und Migration gibt es nicht. Deshalb behilft sich die sozialwissenschaftliche Diskussion mit dem Begriff Exit, um das Migrieren unabhängig von den jeweiligen Gründen zu bezeichnen. Exit ist die Option, die Menschen haben, wenn ihre Lage im eigenen Land gefährlich oder extrem ungünstig ist und sie diese Situation anders nicht ändern können. Stets ist es eine Form der Ungleichheit – an Sicherheit, an Verdienstmöglichkeiten, an Chancen –, die den Ausschlag gibt, die Exit-Option zu wählen.
Karl Marx hat soziale Ungleichheit mit dem Antagonismus von Klassen erklärt. Dieser theoretische Ansatz wird in der Diskussion noch immer verfolgt und ist auch durchaus fruchtbar für die Erklärung gesellschaftlicher Schichtungen. Faist hält jedoch das von Max Weber stammende Konzept der sozialen Schliessung für produktiver, um die Dynamiken beim Aufeinandertreffen von Ungleichen zu analysieren. In der Tat spielt das Moment des Sich-Abschliessens und des Ausschliessens anderer in Migrationspolitiken eine grosse Rolle.
Das Aufeinandertreffen von Ungleichen findet spätestens seit der Zeit von Imperialismus und Kolonialismus auf globalem Niveau statt. Die soziale Frage präsentiert sich als transnationales Phänomen, während die von der Vorstellung eines Ausgleichens von Klassenunterschieden inspirierten Sozialpolitiken fast ausschliesslich auf nationaler Ebene operieren. Diese Inkongruenz von Problemlagen und politischer Problembearbeitung dürfte ein wesentlicher Grund sein, weshalb soziale Verwerfungen auf dem transnationalen Feld so extreme Formen annehmen wie Menschenhandel, Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft und anderes.
Spannungen von Schliessung und Öffnung
Die gängige Praxis der sozialen Schliessung ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. Etwa seit den 1970er-Jahren ist eine «Revolution der Rechte» im Gang, indem das Konzept der Menschenrechte schrittweise erweitert wurde zu sozialen und kulturellen Rechten, welche das Prinzip der Schliessung zu knacken versuchen. Als Folge dieses noch immer laufenden Prozesses (der mittlerweile evolutionären Charakter angenommen hat) bilden sich in der Migrationsthematik eine Reihe von konstanten Spannungsverhältnissen zwischen Schliessung und Öffnung.
In Thomas Faists Migrationsstudie bildet die Analyse dieser Spannungsbeziehungen den theoretischen Kern. Aus ihm gewinnt der Autor die Erkenntnisenergie für die Ordnung und Durchdringung der Vielzahl von Aspekten der Migrationsthematik und am Ende auch für eine thesenförmige Perspektive eines Umgangs mit Wanderungsprozessen, welcher deren Zwangsläufigkeit und globalem Charakter gerecht wird.
Klimawandel und Migration
Ein Kapitel im Schlussteil des Buches ist dem Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Migration gewidmet. Der Ansatz der globalen Ungleichheit bewährt sich auch hier: Die Bevölkerungen verschiedener Länder sind sehr unterschiedlich als Verursacher involviert und in umgekehrt proportionalem Mass betroffen. Um der globalen Erwärmung gegensteuern zu können, braucht es eine Verminderung der Ungleichheiten durch ein tieferes Niveau der Emissionen.
Der Klima-Diskurs hat sich laut Faist in drei Phasen entwickelt. In einer ersten Periode (1980–2000) lag der Schwerpunkt auf einer prognostizierten Kausalkette: Verschlechterung oder gar Verlust der Lebensgrundlagen, Flucht der Vulnerabelsten, gewaltsame Konflikte durch Massenmigration, Verarmung in betroffenen Ländern, Überforderung der Aufnahmefähigkeit von Zielländern der Klimamigranten.
Faist hält diese Prognose für möglicherweise zu einfach gestrickt. So seien die Fluchtursachen wohl nie derart monokausal, und die Migrationen erfolgten nicht so schlagartig. Er räumt aber ein, dass man nicht wisse, was beim Erreichen von Kipppunkten der Klimaveränderung geschehen könnte.
Eine zweite Phase der Debatte (etwa 2000–2010) hat verstärkt auf eine allmähliche Adaption an veränderte klimatische Bedingungen gesetzt. Nach Deichbau gegen Überschwemmungen und Anpassungen der Landwirtschaft käme es in einer nächsten Stufe zunächst zu Binnenmigration und erst im Extremfall zu transnationalen Wanderungen.
In der nach 2010 einsetzenden dritten Debattenphase richtet sich der Blick auf die übermässige Betroffenheit von Frauen, auf soziale Folgen wie Ausbeutung und Zwangsarbeit für die ihre Lebensgrundlagen verlierenden Unterschichten. Ihr Schicksal durch Migration verbessern können nur diejenigen, die über die dazu nötigen Mittel verfügen.
Dabei spielt allerdings der Umstand eine Rolle, dass laut Genfer Flüchtlingskonvention die vom Klimawandel Betroffenen bis anhin keinen Flüchtlingsstatus haben. Eine Änderung dieser Regelung ist zurzeit im UNHCR (Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge) in Diskussion. Wie auch immer das UNHCR entscheiden wird, die Klimakrise wird den Druck auf die Migration verstärken, was die globale Ungleichheit ein weiteres Mal in den Brennpunkt rücken wird.
Plädoyer für faire Migrationspolitik
In seinen Thesen für einen sachgerechten Umgang mit dem Thema plädiert Thomas Faist für eine faire Migrationspolitik, die darin besteht, transnationale Mobilität von Menschen und Menschengruppen zur Verbesserung von Lebensverhältnissen grundsätzlich zu ermöglichen und nicht zu verhindern.
Hierbei sollen faire Bedingungen für die wandernden Arbeitskräfte gesichert werden. Die Anwerbung von Migranten und ihre eventuelle spätere Rückkehr sind zu regeln und Herkunftsländer für ihre Verluste durch den Brain Drain zu entschädigen. Migration soll mit solchen Massnahmen als faire Partnerschaft zwischen Herkunfts- und Zielländern sowie selbstverständlich den Migrierenden gestaltet werden. Idealerweise kann dadurch eine Win-Win-Win-Situation herbeigeführt werden.
Aus der Sicht der Zielländer gilt es, das ohnehin völlig untaugliche Konzept der Bekämpfung von Fluchtursachen hinter sich zu lassen und sich zu einer aktiven Ermöglichung von Migration zu bekennen. Einen Grund dafür hat der eingangs erwähnte Transportunternehmer ins Feld geführt: Er findet keine Fahrer mehr und sucht sie jetzt in Afrika.
Ein weiterer Grund ist die längst bestehende Normalität von Migration. Thomas Faist drückt das sehr schön aus mit der Aussage: Wir haben hier nicht Menschen mit Migrationshintergrund, sondern wir sind Gesellschaften mit Migrationshintergrund.
Thomas Faist: Exit. Warum Menschen aufbrechen. Globale Migration im 21. Jahrhundert, C.H. Beck 2022, 400 S.