Pierluigi ist Hotelier am Ponte dei Greci. Er ist fünfzig, wurde in Venedig geboren und liebt seine Stadt. Kommt die Rede auf den Karneval, verzieht er sein Gesicht. „Der Karneval ist vielleicht gut fürs Geschäft, aber nicht für die Venezianer.“
An den zwei Wochenenden fallen 300‘000 Touristen ein: vor allem Deutsche, Franzosen, Schweizer und Österreicher. „Es ist schrecklich“, sagt Pierluigi. Während den zehn Karnevalstagen bleiben er und seine Familie vor allem zu Hause.
„Viele glauben, der Karneval sei ein Oktoberfest. Da grölen sie auf der Piazza San Marco, sie johlen Fussball-Lieder und ziehen mit Bier-Flaschen über die Riva degli Schiavoni.
Früher verkleideten sich die Venezianer mit edlen Seidengewändern und trugen kunstvolle Masken – jede ein Unikat, jede ein Meisterwerk. Heute trampeln Micky Mäuse durch die Gassen, Plutos, Donald Ducks, Biene Majas, Tarzans. Und wer steckt hinter diesen Masken? Mit Sicherheit ein Pauschaltourist."
Alessandro ist Kellner. „Natürlich mögen wir den Karneval, er bringt Geld und Trinkgeld, wenn auch nicht viel. Die meisten Touristen sind geizig. Von Essen verstehen sie wenig. Sie essen nur Pizza.“
“Lächerliche Clown-Kostüme“
Die Tourismus-Industrie versucht, das Fest als eine der „weltweit schönsten Karnevalsveranstaltungen“ zu verkaufen. Man preist „die fantasievollen, hochwertigen Masken“. Man lässt die commedia dell’arte hochleben.
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Selbst in einem Blog im deutschen „Dreamguides“ heisst es: “Liebe Deutsche, bitte nicht mit lächerlichen Clown-Kostümen und Perücken. Es wäre für Venedig und die Venezianer eine Beleidigung!“
Hotels und Restaurants lieben den Karneval. In der flauen und meist kalten Winterzeit bringt er Kunden und Geld. Und er bringt Chaos. Die engen Gassen sind verstopft. Polizisten versuchen, den Menschenstrom zu kanalisieren – und machen alles nur schlimmer. „An Karneval gibt es kein Durchkommen“, sagt Pierluigi. Viele Venezianer legen sich für diese Tage zu Hause einen Notvorrat an. So müssen sie sich nicht durch die Menge kämpfen, um etwas Essbares zu kaufen.
Cristina, eine Kunststudentin, lacht nur, wenn wir über den Karneval sprechen. „Die ausländischen Männer glauben wohl, sie könnten die schönen Venezianerinnen verführen, so wie einst Casanova. Aber wir sind anspruchsvoll.“ Auch Cristina verkriecht sich. „Ich mag diesen billigen Rummel nicht.“
Geheime Wünsche und Kuckuckskinder
Zum ersten Mal ist der Karneval im Jahr 1094 dokumentiert. Im späten Mittelalter und während der Renaissance wurde das Fest immer edler, immer künstlerischer, immer ausgelassener. Im 18. Jahrhundert erreichte der Carnevale seinen Höhepunkt. Es war die Zeit des Giacomo Casanova, dem berühmtesten Sohn der „Löwenrepublik“ - neben Tizian, Tintoretto, Vivaldi, Goldoni und Marco Polo.
Die Zeit des Giacomo Casanova war noch immer die Zeit der strengen Sitten. Doch während des Karnevals liess man sich gehen – zumindest die Reichen. Edle Herren und edle Damen vergassen ihre Principien und taten inkognito, nämlich maskiert, was sie im Geheimen wünschten. Neun Monate nach dem Karneval explodierten die Geburtenrate und die Zahl der Kuckuckskinder.
In vielen Romanen und Legenden wird diese Zeit beschworen. Ein Edelmann mit Maske und langem schwarzen Rock geht durch die spätnächtliche Gasse. Der Nebel ist so dicht, dass er keine drei Meter weit sieht. Plötzlich taucht eine weibliche Maske vor ihm auf. Und so weiter.
Moralische Krise
1797 verlor die einst mächtige Republik Venedig ihre Unabhängigkeit. Am 14. Mai 1797 besetzte Napoleon die Stadt.
Die Legende besagt, dass Napoleon den venezianischen Karneval verboten hat. Er fürchtete, heisst es, dass hinter den Masken eine Verschwörung gegen ihn geplant werden könnte. So nett die Legende klingt, sie stimmt nicht.
Im Frieden von Campo Formio fiel die Stadt 1798 an die Habsburger. Venedig stürzte in eine wirtschaftliche und moralische Krise. Den einst erhabenen Bewohnern war es nicht mehr zum Feiern zumute. Die Österreicher, stolz auf die neu erworbene Lagunenstadt, versuchten zwar immer wieder, den Karneval zu beleben. Doch die Venezianer hielten wenig von den neuen Herren und boykottierten das Fest.
Dann kam Federico Fellini
1866 wurde Venedig mit dem neugegründeten Königreich Italien vereint. Die Stadt hatte die österreichischen Besatzer los. Seither wurde immer wieder versucht, den Carnevale neu auferstehen zu lassen. Vor allem Gondolieri, Hotels, Restaurants und Geschäfte hofften auf zusätzliche Einnahmen. Doch alle Versuche misslangen.
Dann kam Federico Fellini. Zwar kam er nicht nach Venedig, doch er ist der Vater des neu belebten Karnevals.
1976 drehte er den Film „Il Casanova di Federico Fellini“. Er tat dies im Römer Studio Cinecittà, ohne einen Fuss nach Venedig zu setzen. Das grandiose theatralische Werk mit Donald Sutherland in der Hauptrolle beginnt mit überwältigenden und prunkvollen Karnevals-Szenen. Sie sind so überwältigend und prunkvoll, dass sie den Anstoss gaben, den Karneval neu zu beleben. Künstler, Maskenbildner, Theaterregisseure, Schauspieler, Tänzer – alle machten sich an die Arbeit. 1979 wurde der erste „neue“ Karneval gefeiert. Natürlich mit Unterstützung der Tourismusbranche.
Venedig, ein einziges Theater
Nicht alles ist schlecht an diesem Kommerz-Fest. Während des ganzen Jahres arbeiten „Mascherieri“, oft in Hinterhöfen, an neuen, phantasievollen Masken. Man sieht prächtige Kostüme aus Samt und alter orientalischer Seide. Da und dort wird die Tradition der Marionetten-Theater neu belebt. Hutmacher kreieren auch heute wahre Prachtsexemplare. Junge Musikerinnen und Musiker, direkt aus dem Konservatorium kommend, spielen auf der Riva degli Schiavoni oder dem Zattere-Quai Vivaldis Violinkonzerte und Sonaten. Und wie schon im Mittelalter schwebt auch in diesem Jahr ein Engel vom Campanile auf den Markusplatz hinunter.
Dennoch: Die meisten Verkleidungen sind geschmacklos. Die meisten Masken sind Billigware, gekauft an Hunderten von Touristenständen rund um San Marco. Der Schmuck besteht aus billigem Murano-Kitsch. Il Carnevale di Venezia ist mehr Jahrmarkt als Karneval. Die alte Romantik wird zwar besungen und von der Stadt gefördert – doch sie ist schwer zu finden.
Eigentlich bräuchte Venedig diesen kommerzialisierten Karneval gar nicht. Das ganze Jahr wimmelt es hier von Harlekins. Auch ohne Carnevale ist die „durchlauchigste“ Lagunenstadt („La serenissima“) eine einzige Theaterkulisse ein einziges Theater, eine einzige commedia dell’arte: ein einziges, irreal wirkendes Weltwunder.