Vor mir liegt ein Buch, das vor genau vierzig Jahren erschien und das einen Titel trägt, der heutzutage nicht nur unzeitgemäss, sondern geradezu zynisch anmutet: „Mich rührt ein Wind vom Orient“. Verfasser der schmalen Broschüre war Marcel Beck, zwischen 1947 und 1978 Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Zürich. Das Buch enthält, wie der Untertitel verrät, Tagebuchnotizen von den vielen Reisen, die der Professor mit seinen Studenten jeweils in den grossen Semesterferien unternahm.
Mit klapprigen Bussen und keuchender Bagdadbahn
Diese Reisen führten, um nur die wichtigsten Ziele zu nennen, nach Griechenland und der Türkei, nach Ägypten und Syrien, in den Irak und den Iran. Man tauchte ein in fremde Sitten und Gebräuche, besichtigte Ausgrabungsstätten, besuchte Museen, diskutierte mit Einheimischen. Man mied den Komfort, fuhr auf klapprigen Bussen und mit der keuchenden Bagdadbahn, benutzte schrottreife Schiffe und nächtigte in dürftigen „rest houses“, in Studentenheimen oder im Freien.
Es waren ungewöhnliche Unternehmungen, und ebenso ungewöhnlich war der Reiseleiter Marcel Beck. Schon vor seiner Berufung nach Zürich war ihm der Ruf vorausgeeilt, eine eigenwillige Persönlichkeit zu sein. Man erfuhr, dass er in Berlin, wo er bei der Forschungsstelle der „Monumenta Germaniae Historica“ an der Edition von Geschichtsquellen mitarbeitete, die Büste seines Vorgesetzten in den Papierkorb geworfen hatte.
Nach seiner Rückkehr in die Schweiz erregte er erneut Aufsehen, weil er in den Räumen der Landesbibliothek in Bern einen Kollegen geohrfeigt hatte. Nachdem er seine Zürcher Professur angetreten hatte, begann Beck, sich in der Öffentlichkeit pointiert zu geschichtlichen und politischen Fragen zu äussern. Er liebte es, Widerspruch zu erregen und gegen Tabus anzurennen.
Wider den Tell-Mythos und Zweifel an der Neutralität
So stellte er, lange bevor dies zum modischen Thema geworden war, die Existenz Wilhelm Tells und die Glaubwürdigkeit der eidgenössischen Gründungsgeschichte in Frage. Er wagte es auch, mitten in Zeiten des Kalten Krieges und ausgerechnet in einer Erstaugustrede, an der Neutralitätsdoktrin zu zweifeln.
Als Mitglied der Demokratischen Partei sass Beck im Zürcher Kantonsrat und brachte es zum Nationalrat. Er war auch als Kolumnist für Tageszeitungen tätig und äusserte dort unbekümmert Ansichten zu diesem und jenem, die oft genug von der Parteilinie abwichen.
Seine Lust an der Provokation polarisierte und entzweite Marcel Beck auch mit den Kollegen am Historischen Seminar der Universität Zürich. So wird glaubwürdig überliefert, dass er während eines Historikerausflugs, als der Althistoriker Ernst Meyer in Aix-les-Bains mit murmelnder Ausführlichkeit vor einem römischen Grabmal referierte, die Aufmerksamkeit der Studenten mit dem Zuruf auf sich zog: „Ich will ein Bier; man folge mir.“
Kenner der Kreuzzüge
Ein nicht weniger glaubwürdiger Zeuge, damals Assistent am Historischen Seminar, weiss zu berichten, dass Beck in einer stürmisch verlaufenden Professorenkonferenz seinen Fachkollegen, den würdigen Professor Leo von Muralt, mit „Leöli“ anredete, was dieser nicht als Kosenamen empfand.
Ein Lieblingsthema von Professor Beck war die Geschichte der Kreuzzüge. Diese Geschichte beginnt im Jahre 1095, als Papst Urban II. am Konzil von Clermont die abendländische Ritterschaft dazu aufrief, Jerusalem und das Heilige Land von der Herrschaft der Muslime zu befreien und sich durch solche Waffentat das eigene Seelenheil zu sichern. Der Aufruf löste eine Massenbewegung aus.
Ein erster Kreuzzug eroberte 1099 Jerusalem. Weitere Züge folgten und führten zur Gründung von Kreuzfahrerstaaten im Nahen Osten – ein frühes Beispiel des europäischen Kolonialismus vor Kolumbus. Doch die Zahl der europäischen Kolonisten war auf die Dauer zu gering, um die Existenz der Kreuzfahrerstaaten zu sichern. Im Jahre 1187 fügte Saladin den Christen eine schwere Niederlage bei und 1291 räumten sie Akkon, ihren letzten noch verbleibenden Stützpunkt.
Die wechselhafte und farbige Geschichte dieser Kreuzzüge ist in altfranzösischen und lateinischen Schilderungen von Reisenden und Chronisten gut dokumentiert. Marcel Beck war ein hervorragender Kenner dieser Berichte und verstand es ausgezeichnet, sie den Studenten nahezubringen. Er war das, was man einen Meister einfühlender Interpretation nennen könnte.
Leidenschaftlicher Innenpolitiker
Sosehr versetzte er sich in die Zeugnisse der Reisenden und Chronisten, dass sich deren Seelenstimmung in Rede, Mimik und Gebärdenspiel des Interpreten ausdrückte. Wenn vom Aufruf des Papstes die Rede war, erhob sich Becks Rede zu beschwörendem Tonfall, wenn die Quellen vom Blutbad bei der Eroberung Jerusalems berichteten, malte sich in seiner Miene des blanke Entsetzen, und wenn im unseligen Vierten Kreuzzug von 1203 die Christen ihre Glaubensbrüder in Konstantinopel angriffen, zitterte seine Stimme vor Empörung.
Auch neigte Professor Beck dazu, das, was er in ferner Vergangenheit wahrnahm, durch die Gegenwart bestätigt zu finden. Es konnte geschehen, dass während seiner Vorlesung ein Student die Frage in den Hörsaal rief, ob nicht im Nationalrat ähnliche Intrigen gesponnen würden wie im Byzanz des 13. Jahrhunderts. Worauf der Professor mit dröhnender Zustimmung antwortete und den Rest der Stunde der schweizerischen Innenpolitik widmete.
Morgenlandfahrten und Heiratsvermittlung
Marcel Beck gelang es dank der Intensität seiner emotionalen Anteilnahme, die Quellen zum Sprechen zu bringen; doch das anspruchsvolle Geschäft der vergleichenden Quellenkritik, der scharfsinnigen Analyse, der Auseinandersetzung mit Fachliteratur und aktuellem Forschungsstand waren seine Sache nicht. So hat der Professor denn auch kein Werk von wissenschaftlichem Rang hinterlassen.
Auch die Broschüre „Es weht ein Wind vom Orient“ ist keine wissenschaftliche Arbeit. Wir erfahren manches über die Begegnungen mit der einheimischen Bevölkerung, über Strapazen und Entbehrungen und über abenteuerliche Fahrten mit altersschwachen Verkehrsmitteln. Auch kommt der Verfasser auf die zahlreichen Liebschaften zu sprechen, die ihre Entstehung seinen Reisen verdankten.
Dies habe ihm unter missgünstigen Fakultätskollegen den Ruf eingetragen, seine Reisen dienten eher der Heiratsvermittlung als der Wissenschaft. Was ihn jedoch weiter nicht bekümmert habe, im Gegenteil. „Ich bin stolz darauf“, schreibt Beck, „dass zwölf Ehen aus Bekanntschaften während der Morgenlandfahrten hervorgegangen sind.“
Entschwundene Welten
Im Titel und zwischen den Zeilen von Becks Reisebericht wird etwas von der Faszination spürbar, die der Orient seit den Reisen des Marco Polo auf das Abendland ausgeübt hat. Immer wieder und in der vielfältigsten Weise ist diese Faszination in der europäischen Musik, Literatur und Malerei spürbar geworden: Man denke nur an Mozarts „Entführung aus dem Serail“, an Goethes „West-östlichen Divan“ oder an Ingres’ Odalisken.
Doch die Welt, welche die Zürcher Studenten mit Professor Beck vor vierzig Jahren aufsuchten, gibt es heute nicht mehr. Weite Gegenden sind für Reisende unzugänglich geworden, historische Stadtteile sind zerstört, die Museen sind geplündert und geschlossen, bedeutende Monumente des kulturellen Erbes wurden in die Luft gesprengt. An die Stelle der legendären Wohlgerüche, die einst der Wind aus der Levante übers Mittelmeer zu uns herüberwehte, sind Schlachtenlärm, Pulverdampf und Giftgaswolken getreten, die das abendliche Fernsehen in unsere Stuben trägt.
Aber auch Professoren, wie Marcel Beck einer war, könnte es bald nicht mehr geben. Gut möglich, dass die moderne Massenuniversität mit ihren vereinheitlichten, strikt leistungsbezogenen Studiengängen nicht mehr jenen geistigen Freiraum zu bieten vermag, in dem sich eigenwillige Individuen und originelle Charaktere entfalten können. Zwar bemühte sich einer von Marcel Becks Schülern, Professor Roger Sablonier noch, seines Lehrers vitale Querköpfigkeit zu imitieren. Aber es gelang ihm nur halb.