Vor zehn Jahren wurde die Schauspielerin Tanushree Dutta von einem männlichen Kollegen bei der Arbeit an einem Film sexuell belästigt. Dutta war jung und unbekannt, Nana Patekar schon damals ein Bollywood-Star. Die Filmkomödie hiess „Horn OK Pleassss“, und Dutta tat – genau dies. Sie reichte Klage ein und appellierte zugleich an den Verband der Filmschaffenden, Patekar zu bestrafen. Doch nichts geschah, ihre Klage wurde abgewiesen. Sie erhielt kaum mehr Arbeitsangebote und sah sich schliesslich gezwungen, ihr Land zu verlassen.
Vor zwei Wochen erzählte Tanushree Dutta in einem TV-Interview nebenhin diese Geschichte. Niemand rührte sich – ausser Patekar, der sie wegen Rufschädigung verklagte. „Alles wie gehabt“, dachte Dutta resigniert. Doch dann, einige Tage später, brach plötzlich der Sturm los. In den Sozialen Medien solidarisierten sich viele Frauen mit Dutta. Nicht nur dies: Immer mehr Frauen – aus der Film- und Unterhaltungsindustrie, den Medien, der Politik – meldeten sich zu Wort, mit ihren eigenen Erfahrungen sexuellen Missbrauchs.
Was war geschehen in diesen zehn Jahren? Drei Dinge – ein Gewaltverbrechen, ein neues Gesetz und eine technische Revolution. Das Verbrechen war jenes an der jungen Frau, die im Dezember 2012 auf den Strassen der Hauptstadt Delhi von einer Gruppe Männern brutal vergewaltigt und ermordet wurde. Nur wenige Monate später verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das sexuellen Missbrauch am Arbeitsplatz scharf ahndet. Und die technische Revolution war die Geburt der Sozialen Medien, die eine globale Vernetzung elektronischer Kommunikation einläuteten.
Implizite Einladung an Frauen, sich zu melden
Das Verbrechen brachte eine Katharsis: Zum ersten Mal wurde nicht das Opfer eines Sexualvergehens stigmatisiert, sondern dessen Täter. Das Anti-Missbrauchsgesetz seinerseits zeigte erstmals klipp und klar, dass sexuelle Belästigung, selbst wenn sie nicht in einer Vergewaltigung endet, kein „Kavaliersdelikt“ ist. Der Siegeszug elektronischer Kommunikation schliesslich schuf einen globalen virtuellen Raum, der die zeitliche Verzögerung der Massenkommunikation eliminiert. Sie gibt den Teilnehmern das Gefühl einer hautnahen Gemeinschaft in „real time“, trotz grossen geografischen Distanzen.
Dies machte sich die MeToo-Bewegung zunutze, als sie vor einem Jahr sexuellen Missbrauch von Frauen ins globale Scheinwerferlicht zog. Es war nicht nur das Me des individuellen Bekenntnisses, das Menschen überall auf der Welt aufhorchen liess; das Too ging einen Schritt weiter: Es war eine implizite Einladung an Frauen, die gemeinsame Echokammer eines Hashtags zu nutzen und sich mit ihren eigenen Leidensgeschichten zu Wort zu melden.
Es brauchte ein Jahr, bis sich indische Frauen bewusst wurden, dass diese Kombination auch ein Schutz sein konnte, indem sie statt sozialer Ächtung, Isolation, Jobverlust eine solidarische Opfergemeinschaft schuf. Im November 2017 publizierte eine indische Studentin eine Facebook-Gruppe, in welcher indische Akademiker von Frauen blossgestellt wurden, die sich an ihnen vergriffen hatten. Der anfängliche Schock verpuffte, weil die Anklägerinnen, aus Scham oder Angst vor den Konsequenzen, anonym blieben.
Mit Präzision die Umstände beschreiben
Heute zeigt sich, dass viele Frauen daraus gelernt haben. So schwer es vielen fallen mag, sich zu exponieren und einmal mehr ein „victim shaming“ zu riskieren, nun melden sie sich mit ihrem Namen zu Wort. Sie wissen auch, dass die meisten sexuellen Verbrechen eine andere Form juristischer Beweisführung als Augenzeugen oder Videoaufnahmen verlangen – „circumstantial evidence“. Dies bedeutet, dass sie mit möglichst grosser Präzision die Umstände der Übergriffe beschreiben müssen.
Dazu kommt nun eine unerwartete Nebenwirkung, die das Gewicht der Anklagen noch verstärkt: Viele Täter lassen es nicht bei einem Übergriff oder einem einzigen Opfer bleiben, denn es geht ja nicht um diese eine Person, sondern den sexualisierten Machtinstinkt.
Plötzlich meldeten sich Frauen, die ähnliche Erfahrungen mit dem gleichen Mann hatten oder die in einer Art von Triangulierung die beschriebenen Umstände von Ort und Zeit – etwa die eines Newsdesk-Büros – bestätigen konnten. Oder sie berichteten über Erlebnisse, die aus derselben sozialen Konstellation eines Machtgefälles zwischen Täter und Opfer entstanden – zwischen Journalistin und Chefredaktor, Assistentin und Chef, Darstellerin und Regisseur.
Ein Juniorminister als Täter
Nun hat sich in diesem immer enger werdenden Netz von Opfer-Zeugnissen und Zeugenberichten der erste prominente Täter verstrickt. Am Mittwoch demissionierte M. J. Akbar von seinem Amt als Juniorminister im indischen Aussenministerium. Über zwanzig Frauen hatten sich als Opfer seiner sexuellen Avancen gemeldet. Zahlreiche weitere berichteten über den Mix von Gerücht, Beklemmung und Schweigen, der unter Frauen über die Jahre an Akbars Arbeitsplätzen geherrscht hatte.
Dieser Arbeitsplatz war nicht ein Ministerium oder der Sitz einer politischen Partei. Das Aussenministerium ist der erste Regierungsjob, den Akbar ausgeübt hat. Während vier Jahrzehnten war er ein bekannter Journalist gewesen, ein erfolgreicher Mediengründer und ein einflussreicher Chefredaktor. Es war während dieser Zeit, dass sich Akbar auch als ein notorischer Schürzenjäger entpuppte.
(Ich kannte Akbar ein bisschen, und hatte oft gehört, wie er talentierte Journalistinnen in einer Mischung von sexueller Nötigung und Karrierelockung an sich band. Meine Formulierung des „Schürzenjägers“ ist verräterisch. Sie ist ein Indiz, dass auch ich sexuelle Ausbeutung als Kavaliersdelikt bagatellisierte. Es bedurfte der MeToo-Bewegung, um mir klarzumachen, wie sehr wir Männer dieses patriarchalische Machtgehabe mit Schweigen oder gar Schulterklopfen legitimierten. Wir waren blind für die Wunden, die es schlug.)
„Rufmord“
Akbar hörte von den ersten Anklagen gegen ihn, als er auf einem Afrika-Besuch war. Am letzten Sonntag kam er nach Delhi zurück, bereits mit einem Dutzend ähnlicher Klagen überhäuft. Doch statt zurückzutreten – zumindest für den Zeitraum einer offiziellen Untersuchung – ging er zum Gegenangriff über.
Er verklagte die erste Journalistin, die es gewagt hatte, ihn öffentlich zu demaskieren. Eine organisierte Kampagne des „Rufmords“, so lautete sein Vorwurf. Um von seinen politischen Meistern Rückhalt zu bekommen, nannte er auch „politische Motive“ und er verwies auf die zeitliche „Koinzidenz“, dass die Angriffe ein Jahr vor der nächsten Parlamentswahl kamen.
Der Minister unterstrich seine Verkennung der neuen MeToo-Gemengelage noch, als er vermeintlich noch schwereres Geschütz auffuhr: Statt einem kleinen Team seines Anwaltbüros wurden in der Anklage gleich alle 79 Anwälte namentlich aufgeführt. Es zeigte mehr als alles andere, dass er zu jener Spezies Mann gehört, für die jede Form von Macht – sexuelle, politische, finanzielle – austauschbar und ein männliches Vorrecht ist.
„Outraging the modesty of a woman“
In der Flut von Wortmeldungen, die mich bei meiner Rückkehr nach Indien aus allen Medienkanälen überfluteten, stach die einer alten Frau in Chandigarh heraus. Vor dreissig Jahren hatte Rupan Deol Bajaj, damals eine hohe Regierungsfunktionärin, den Polizeichef des Bundesstaats Panjab verklagt. K. P. S.Gill hatte bei einer Party des Gouverneurs Frau Bajaj öffentlich lächerlich gemacht und betatscht.
Die Anklage gegen Gill, schon damals ein notorischer Sextäter, lautete auf Verletzung von zwei Paragrafen im StGB. In den 128 Jahren ihrer Existenz (das indische StGB ist ein Kolonialgesetz aus dem Jahr 1860) waren diese noch nie angerufen worden. Sie bezeichnen den Straftatbestand des „outraging the modesty of a woman“, (etwa: die Besudelung der Würde einer Frau, ohne Anwendung von Gewalt).
Allein diese „Première“ war schon symptomatisch genug. Und es war dann auch kein Zufall, als das Obergericht des Panjab die Klage wegen „Nichtigkeit“ vom Tisch wischte. Bajaj gab nicht auf, trotz Strafversetzungen und sozialer Isolierung. Nach sieben Jahren wurde ihre Klage gegen Gill vom Obersten Gericht des Landes gutgeheissen. Gill wurde abgeurteilt.
In einem Interview mit dem Online-Portal „The Wire“ sagte Bajaj über Indiens MeToo-Bewegung: „Make no mistake, this is the most difficult and courageous thing for a woman to do, and no one can doubt her when she finally decides to speak. Women are believing the #Me Too stories because similar things have happened to most of them. It resonates with their own experiences.“ Bajaj zitiert – zustimmend – einen Ausspruch von ... Donald Trump: „He said recently: ‚This is a scary time for men’. I say this is a scary time only for those who were at it with impunity for years.“