(West)Deutschlands erstem Bundeskanzler Konrad Adenauer wird der Satz zugerechnet: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern“. Nach den französischen Präsidentschaftswahlen und dem Sieg des Sozialisten Francois Hollande am vergangenen Sonntag sollten sich die Polit-Berater und (mehr noch) deren Obere in Paris wie auch in Berlin dieses – gewiss ebenso zynischen wie von langer Lebenserfahrung geprägten – Ausspruchs erinnern. Denn je schneller Angela Merkel und der Sarkozy-Bezwinger Misstöne hier und dort allzu leichtfertig abgegebene Wahlkampfversprechungen wieder aus der Welt schaffen, desto besser für den Fortgang der deutsch-französischen Zusammenarbeit, von der nicht nur Wohl und Wehe der beiden Staaten, sondern weitgehend die Zukunft Europas abhängt.
Ein großes Wort, gewiss. Und der Vorwurf „Anmaßung“ könnte nahe liegen. Andererseits hat es in der Geschichte der EWG, späteren EG und jetzigen EU wenige Phasen gegeben, in denen sich die Gemeinschaft wirtschaftlich, fiskalisch und damit auch politisch derart schwächlich bis zerbrechlich präsentierte. Und dies bis in die diversen Zivilgesellschaften hinein. Die teilweise erschreckenden Gewinne linker wie rechter Flügelparteien bei den Wahlen in Frankreich und Griechenland, ja selbst das vieldeutige Ergebnis beim (vergleichsweise dazu zweitrangigen) Landtags-Urnengang im norddeutschen Bundesland Schleswig-Holstein zeigen die fragilen Gefühlsverfassungen der Menschen. Politisch verfügte Spardiktate, sinkender Wohlstand und fehlende Perspektiven – der Glaube an „Europa“ ist weitgehend verloren gegangen.
Wie stark ist die „Achse“?
Wenn es in den vergangenen Jahrzehnten knisterte im Brüsseler Gebälk, wurde traditionell schnell nach der deutsch-französischen „Achse“ gerufen, um die Energie des EU-Motors nicht verpuffen zu lassen. Dem daraus erwachsenden Handlungszwang werden sich die Regierungen an Spree und Seine auch jetzt nicht entziehen können – vermutlich sogar weniger denn je. Und dies gerade ungeachtet der während der vergangenen Monate von der christdemokratischen deutschen Kanzlerin und dem Sozialisten Hollande vollzogenen verbalen Festlegungen. Tatsächlich waren ja nicht nur bereits während des Wahlkampfgetöses zwischen den beiden Lagern diskrete Verbindungen geknüpft und überzogene Positionen relativiert worden. Sicher, Angela Merkel hatte offen auf Sarkozy gesetzt und dem französischen Sozialisten die kalte Schulter gezeigt. Doch bereits in der Wahlnacht kündigte sie ihm telefonisch an, er werde „mit offenen Armen“ in Berlin empfangen. Und hat nicht auch Hollande noch vor der Bekanntgabe seines Triumphes eingeräumt, dass die Deutschen die Krise besser als die Franzosen gemeistert hätten?
Ob die politischen Führungen diesseits und jenseits des Rheins erfolgreich oder weniger gut miteinander „können“, ist nicht eine Frage der Parteipolitik. Viel eher hängt es davon ab, dass zwischen den handelnden Personen die – wie man sagt – „Chemie“ stimmt. Wie etwa zwischen dem hanseatischen Sozialdemokraten Helmut Schmidt und dem konservativen französischen Adligen Giscard d´Estaing. Nicht nur ein ungemein erfolgreiches Polit-Paar, sondern bis heute enge Freunde. Oder zwischen dem Christdemokraten Helmut Kohl und dem Sozialisten Francois Mitterrand – auch hier ging politisches Vertrauen Hand in Hand mit politischem Erfolg einher.
Kluger Pragmatismus
Hollande hat bereits angekündigt, seine erste Reise nach dem offiziellen Einzug in den Elysee-Palast werde ihn nach Berlin führen. Ob das nun (wie verschiedentlich vermutet) bereits am 15. Mai, seinem ersten Arbeitstag, sein wird, ist nicht entscheidend. Wichtiger sind die bereits aus den beiden Hauptstädten gesendeten Signale. Danach ist keineswegs mehr unerbittlich von der Seine die Forderung zu hören, der sogenannte, von 25 EU-Ländern beschlossene „Fiskalpakt“ mit seinen harten Spardiktaten müsse neu verhandelt werden. Stattdessen heißt es nun, dem Sparziel sollten Elemente zur Ankurbelung von Konjunktur und Wachstum beigesellt werden. Und schon signalisiert von der Spree her die weiße Fahne grundsätzliches Einverständnis. Das heißt doch: Hollande gibt prinzipiell zu erkennen, dass die scheinbar eisernen Grundsätze aus dem Wahlkampf im politischen Alltag selbstverständlich dem notwendigen, klugen Pragmatismus weichen werden. Und für Merkel gilt dasselbe, will sie nicht sich und Deutschland im europäischen Verbund isolieren. Das könnte sogar schon auf dem nächsten regulären EU-Gipfel Ende Juni in Brüssel besiegelt werden.
Dieses bereits erkennbare aufeinander Zugehen ist ja schließlich auch ohne vernünftige Alternative. Deutschland und Frankreich sind im europäischen Verbund nun einmal auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Das muss nicht unbedingt immer in vollendeter Harmonie geschehen – ist es über die Jahrzehnte ja auch keineswegs. Und natürlich wird man auf deutscher Seite gespannt beobachten, wie Francois Hollande seine sozialen Versprechungen einhalten will. Als da sind: Rückkehr zur Rente mit 60 Jahren, 35-Stunden-Arbeitswoche und ähnliches. Oder ob er nicht ziemlich schnell von der finanzpolitischen Wirklichkeit eingeholt werden will. Hier braucht Angela Merkel gar nicht mal mahnend den Finger zu heben. Dafür stehen schon die mächtigen amerikanischen Rating-Agenturen Gewehr bei Fuß, an deren Diktum auch Hollande nicht vorbei käme.
Es mag ein wenig verwegen klingen. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass – wenn alles gut liefe – das politisch so unterschiedliche Gespann „Merkollande“ besser im europäischen Geschirr geht als es bei der Kombination mit Sarkozy der Fall war. Denn das neue Schwergewicht aus Frankreich und die (zumindest außenpolitisch) noch immer einflussreiche Dame aus Deutschland haben immerhin die Chance, sowohl das konservative wie das sozialistische Parteienlager in der EU abzudecken. Auch das wäre durchaus positiv zu bewerten.