Es war wie ein stummer Aufschrei, getragen von manchmal fast unerträglichen Emotionen. Die Fragen hingen in der Luft. Die Debatte hat begonnen, noch bevor Präsident Hollande am Sonntag mit über 40 Staats- und Regierungschefs , von denen nicht alle die Meinungsfreiheit respektieren, an der Manifestation in Paris mit anderthalb Millionen Teilnehmern mitmarschierte. Hollande hat sein Ansehen dank der entschlossenen Polizeiaktion gegen die drei islamistischen Attentäter (ein vierter wird noch gesucht) schlagartig gemehrt. Es werden von ihm jetzt aber viele Entscheidungen für den Kampf gegen den Terrorismus verlangt, die politisch heikel sind.
Die erste Reaktion nach einem Terroranschlag in Frankreich ist immer die Warnung der Regierung, der liberalen Medien und Intellektuellen sowie der Imame, kein Amalgam zu machen. Das heisst: nicht islamistischen Terrorismus mit dem Islam gleichzusetzen. Ein Muslim hat das nach den Attentaten so formuliert: "Sie (die Terroristen) haben mir meine Religion gestohlen." Man will damit das Unbehagen in einem Teil der Bevölkerung über den Islam - oder wie es der rechtsextreme "Front national" (von der Manifestation in Paris ausgeschlossen) formuliert: über die "Immigration" schlechthin - dämpfen und bei der muslimischen Minderheit (unter zehn Prozent der Gesamtbevölkerung) die schwierige Integration nicht zu gefährden.
Die Mehrheit der Muslime sind gemässigt und nicht sehr gläubig
Das erste Amalgam begehen jedoch die Terroristen, die, angeführt von ihren Drahtziehern im Nahen Osten, Arabien und Afrika, die ihrerseits von gewissen Regimes in der Region unterstützt oder geduldet werden, Allah und Morden gleichsetzen. Dies wiederum bewegt die Kommentatoren in Europa, von ihren Muslimen stets eine Verurteilung der Terrormorde zu verlangen. Viele haben es schon getan, nicht immer hörbar, einige wenige weigern sich. Sie wollen sich nicht rechtfertigen, dass sie muslimischen Glaubens sind. Aber das hat auch niemand verlangt. Die überwältigende Mehrheit der französischen Muslime sind gemässigt und nicht unbedingt immer sehr gläubig.
Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung weiss das und macht kein Amalgam mit dem Terrorismus. Ein Unbehagen besteht vielleicht, weil sich viele Muslime mit ihren Halal-Metzgereien absondern, den Ramadan zu ostentativ feiern, gegen traditionnelle Weihnachtsbäume und Krippen sowie gegen Schweinefleisch in den Schulkantinen protestieren. Oder den Gesichtsschleier - nicht die Burka, die verboten ist - auch in öffentlichen Funktionen tragen wollen. Die sozialistische Regierung ist ihnen in dieser Hinsicht oft sehr entgegengekommen - womit sich das Problem der Laizität stellt (weiter unten).
"Schwierig, hinter Netanyahu zu marschieren"
In einigen Schulen haben sich muslimische Schüler renitent gezeigt, als eine Schweigeminute für die Opfer der Terroranschläge organisiert worden war. Die Begründung: man habe für die (muslimischen) Opfer in Syrien (alle von Muslimen oder Islamisten getötet) auch keine Schweigeminute abgehalten. Oder: man wolle die Palästinenser unterstützen. Das hat auch ein Imam vorgebracht: es sei für viele Muslime "schwierig hinter Netanyahu zu marschieren". Auch ein Amalgam: Abbas marschierte neben Netanyahu in Paris. Die Hamas hat im übrigen die Attentate nunmehr auch verurteilt, auf Französisch, also vielleicht auf dringenden diplomatischen Ratschlag.
Viele Imame halten am falschen externen Amalgam gegen die Muslime fest, so wie auch Soziologen an der Benachteiligung junger Muslime in den armen Vorstädten. Die Benachteiligung ist erwiesen - immer mehr übrigens auch für "Eingeborene" - , nicht aber ein Determinismus, Terrorist werden zu müssen. In Marseille präsentiert sich die Lage schon ganz anders, leider dank der Drogenmafia. Aber nicht jeder proletarische Jugendliche mit "Migrationshintergrund", wie man die Immigrantenkinder jetzt despektierlich nennt, wird Verbrecher oder Terrorist.
Kampf zwischen Zivilisationen?
Dringend ist jetzt die bessere Koordination innerhalb der EU, worüber am Montag in Paris bereits verhandelt wurde, inbegriffen eine engere Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten (hätte diese bestanden, hätten die Franzosen rechtzeitig die bekannten, aber schlecht überwachten Terroristen, die sich seit zehn Jahren vorbereitet haben, mit ihrem Waffenarsenal vor dem Anschlag identifizieren können). Mit Recht werden in Frankreich und anderswo Beschneidungen der Freiheitsrechte nicht akzeptiert. Es gibt jedoch mögliche Ausnahmegesetze im Zusammenhang mit Terrorismus - es muss nicht gerade ein amerikanischer Patriotic Act sein -, es gibt sie auch schon in Frankreich, aber sie werden nicht immer konsequent angemeldet. Die Überwachung "Big Brother" existiert jedenfalls auch ohne den Staat.
Eine wichtige Frage, die Frankreich umtreibt: sind wir bereits in einem "Krieg", einem Kampf zwischen "Zivilisationen", wie der frühere Präsident Sarkozy es beschrieb? Dies würde heissen, dass man al-Kaida (die mit ihrem jemenitischen Ableger auferstanden ist) und dem sogenannten "islamistischen Staat" die Médaille einer Nation oder gar einer Zivilisation zugesteht. Es ist die Anti-Zivilisation, die man gemeinhin Barbarei nennt. Schon wieder ein Amalgam.
Garantierte Religionsfreiheit
Zur Zivilisation gehört in Frankreich die Laizität. Frankreich ist seit 1905 gemäss Verfassung ein laizistischer Staat. Es herrscht eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche(n). Der Staat mischt sich nicht in religiöse Angelegenheiten ein, aber garantiert allen Glaubensbekenntnissen die Religionsfreiheit. Es gibt weder eine Staatsreligion (wie noch in Grossbritannien), noch Kirchensteuern.
Die Religionen mischen sich nicht in Staatsangelegenheiten ein, was sie aber laufend tun als pressure groups. Sie vergiften damit die politische Atmosphäre, so wie im letzten Jahr die katholische Kirche mit ihrer ferngesteuerten Kampagne gegen die gleichgeschlechtliche Ehe. Die Minderheitskonfessionen - Islam, Juden, Protestanten etc. - sind diskret im Respekt der Verfassung. Die laizistischen Muslime allerdings werden nicht gehört. Malek Chebel, ein algerisch-französischer Intellektueller und Theologe, der einen "aufgeklärten Islam" verteidigt, hat erst jetzt wegen der Attentate am Fernsehen ein Publikum gefunden, das ihn hoffentlich hört.
Tradition der Satire
Am Mittwoch erscheint Charlie Hebdo, fast wie immer seit 22 Jahren, aber diesmal mit einer Million Exemplare. Der Erlös geht an die Hinterbliebenen der Opfer des Attentats. Die französische Regierung hatte vor Jahren ihre Missbilligung ausgedrückt, als Charlie Hebdo die dänischen Mohammed-Karikaturen nachgedruckt hatte. Charlie Hebdo war geliebt und verhasst je nach politischem "Couleur" für seine unerbittliche karikaturale Verfolgung der Bigotterie und der politischen Doppelzüngigkeit. Geschmacklos, pornographisch (Wolinski, ein vom KZ entronnener Jude, jetzt ermordet mit 80 Jahren), provokativ, denn Frankreich ist seit seiner Révolution 1789 in dieser "Tradition" der Satire. Alle Leute, die ich in einem kleinen südfranzösischen Dorf getroffen habe und die nie Charlie Hebdo gekauft haben, waren schockiert. Voltaire lässt grüssen.
Früher hatten wir mal in der Schweiz den Nebelspalter mit dem legendären "Bö", der gewissen Bundesräten auch missfiel. Wir müssen jedenfalls nicht den Franzosen erklären, was eine Satire ist oder darf.